Das Evangelische Wort

Sonntag, 04. 12. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Christoph Weist

 

 

Scheren spielen in der vorweihnachtlichen Zeit eine besondere Rolle. Man spricht von ihnen kaum, aber beim Kreieren von Weihnachtschmuck und beim Basteln und Verpacken von Geschenken sind sie, wie man weiß, unentbehrliche Hilfsmittel. Vor allem im kleinen beschaulichen Bereich der Familie, der Schule oder unter Freunden.

 

Es gibt aber eine Schere, von der ist ebenfalls wenig die Rede, und doch ist sie allgegenwärtig, und nicht nur in der Weihnachtszeit. Es ist die Schere zwischen Sagen und Tun. Wie die reale Schere, so spielt auch diese Schere in den kleinen Momenten des Lebens eine Rolle - die sind dann allerdings weniger beschaulich. Sie spielt aber auch eine Rolle im großen gesellschaftlichen – oder soll ich sagen: im politischen - Bereich.

 

Das Sagen und das Tun - zu oft geht beides wie eine Schere auseinander. Und zu oft führt das zu Täuschungen und Enttäuschungen, zu Misstrauen und Hoffnungslosigkeit.

 

Ein - eigentlich gar nicht adventlich klingendes - Gleichnis Jesu fragt:

„Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn, und er ging hin. Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr! und ging nicht hin. Wer von beiden hat des Vaters Willen getan?“ (Mt 21, 28 - 31a)

 

Natürlich ist die Antwort nicht schwer: Der erste Sohn. Bei diesem jungen Mann, der trotz seines anfänglichen Nein die Arbeit aufnimmt, geht’s also hinsichtlich des Problems der Schere noch glimpflich ab.

 

Schwieriger ist es beim anderen Sohn. Der sagt - auch nach damaligem Verständnis fast überhöflich: „Ja, Herr“ – und geht nicht hin. Die Schere klafft.

 

Sie klafft, so wie sie immer klafft, wenn Behauptungen aufgestellt, Ankündigungen getan oder Versprechungen gemacht werden ohne jeden Bezug zur Realität. Oder was noch schlimmer ist: Ohne dass jemand auch nur die Absicht hat, etwas davon einzulösen. Das ist nur vermeintlich taktisch klug. Denn es hat unliebsame Folgen.

 

Es beschädigt im Kleinen das Vertrauen des Kindes, das es sehr wohl empfindet, wenn es mit leeren Versprechungen abgespeist und „ruhig gestellt“ werden soll. Und es beschädigt im Großen das Zutrauen zur allseits gelobten demokratischen Ordnung, wenn Bürgerinnen und Bürger nur als Stimmvieh gelten, dem politisch Verantwortliche keine Rechenschaft schulden. Etwa darüber, was nach der Wahl mit dem Wählerwillen geschieht. Wenn nachfragende Journalisten billige Ausflüchte hören, wenn ihnen Auskünfte über Zukunftspläne verweigert werden, wenn offenkundige Entwicklungen abenteuerlich umgedeutet oder auf den Kopf gestellt werden. Auch demokratisch gesinnte Menschen werden es dann leid. Auch demokratisch gesinnte Menschen gehen dann nicht mehr wählen.

 

„Ja, Herr“, sagte der zweite Sohn, - und ging nicht hin. Jesus hat diese Geschichte erzählt, weil er an die Ankunft des „Reiches Gottes“ erinnern wollte. An jenen Zustand, bei dem unter anderem Ehrlichkeit und Verlässlichkeit zwischen den Menschen einkehren sollen. Darauf warten Menschen noch heute, zum Beispiel im Advent. Aber eigentlich bräuchten sie gar nicht nur zu warten. Ein beträchtliches Stück des Reiches Gottes könnten sie selbst herbeiführen. Sie müssten nur versuchen, die Schere zu schließen.