Das Evangelische Wort

Sonntag, 18. 12. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Oberkirchenrätin Dr. Hannelore Reiner

 

 

Auf unserem Christbaum wird heuer ein neuer Engel hängen. Es ist eine kleine, dunkelgrüne Engelsfigur mit breiten Flügeln. Material: grünes Flaschenglas. Das wäre noch nichts Außergewöhnliches. Glasengel gibt es in vielerlei Gestalt auf jedem Weihnachtsmarkt. Aber mit diesem dunkelgrünen Glasengel hat es eine ganz besondere Bewandtnis.

 

Seine Geschichte begann schon vor etlichen Jahren: Es war, so wie heute, wenige Tage vor Weihnachten. Auf den Straßen der palästinensischen Stadt Bethlehem liegen überall Glasscherben herum. Panzer riegeln die Stadt ab. Straßen und Geschäfte sind menschenleer. Des Morgens gehen keine Kinder zur Schule, denn die Einrichtung der evangelischen Schule ist, wie wohl auch die der meisten anderen Schulen der Stadt, völlig zerstört. Keine Touristen weit und breit. Die berühmte Geburtskirche ist ohnehin nicht zu betreten…

 

Weihnacht 2005 ist die trostlose Situation der Menschen in Bethlehem nicht viel anders, wenn auch die Panzer längst abgezogen wurden. Was hat die große Politik, die anscheinend in Israel und Palästina keine wirkliche Veränderung in Richtung Frieden bewirken kann, mit meinem kleinen Glasengel zu tun?

 

In eben diesem Bethlehem, ganz im Stillen, breitet sich seit einiger Zeit ein weihnachtlicher Gedanke aus. Wir werfen die vielen Scherben nicht einfach weg. Wir formen sie um in kleine Engelsfiguren. Gesagt, getan! Tausende Engel werden hergestellt, inzwischen auch aus zerbrochenem Flaschenglas. Menschen bekommen Arbeit, die evangelische Schule wird aus dem Erlös neu eingerichtet, Kinder fangen wieder an, täglich in die Schule zu gehen und zu lernen. Die kleinen Glasengel aber fliegen in alle Welt, auch zu uns nach Österreich, bis hin zu meinem Christbaum. Als Träger jener Botschaft, die heute wie damals gilt. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

 

Freilich, das alles bleibt offenbar unbemerkt von denen, die für die Nahostpolitik verantwortlich zeichnen. Aber war es nicht bei jener Geschichte in Bethlehem, die wir Christen als  d i e  Weihnachtsgeschichte erkennen, ebenso? Die Botschaft der Engel von der Geburt dessen, der Frieden auf Erden bringen wird, haben zunächst nur ein paar Hirten und Hirtinnen gehört. Und trotzdem stellt sie der Evangelist Lukas ganz bewusst in den Rahmen der großen Weltgeschichte. Von Kaiser Augustus in Rom ist die Rede und vom syrischen Statthalter. Das eigentliche Weihnachtsgeheimnis aber erfahren nur jene, die auf die Botschaft der Engel zu hören vermögen.

 

Ich wünsche mir, dass es den kleinen Glasengeln aus Bethlehem auch zur heurigen Weihnacht gelingt, ihre alte und immer neue Botschaft von Gottes Ehre und dem Frieden bei den Menschen zu verkünden und dass diese Botschaft auch gehört wird – in Bethlehem und bei uns.