Das Evangelische WortSonntag, 22. 01. 2006, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Frank Lissy-Honegger, Rust Blickkontakt kann man im
Radio nicht halten, im Fernsehen übrigens auch nicht wirklich, nur
als Fiktion. Aber reden will ich von diesen Augenblicken, von diesen
irgendwie entrückten, überraschenden, abgrundtiefen Verbindungen,
die wahrscheinlich alle schon erlebt haben. Augenblicke, in denen
ich erkenne, wie ich erkannt bin. Augenblicke, in denen Zeit und
Raum unbedeutend werden und ich etwas Neues über mich und meine
Mitwelt ahne. Hirnphysiologisch, sagen Wissenschafter, sind solche
Augenblicke sehr bedeutsam, dabei werden Bilder geprägt, die sich
tief in unser Gehirn eingraben, die Zutrauen stiften und weit
tragen. Es ist also gut, wenn wir die Menschen, denen wir verbunden
sind, genau und lang ansehen. Deswegen ist es sicher auch ganz
wichtig, dass wir uns an Babys nicht satt sehen können und die
Aussage „Ich kann oder ich will dich nicht mehr sehen“ bekommt
eine neue Bedeutung. „Why look at animals?“,
Warum Tiere anschauen? heißt ein Artikel von John Berger. Und er
beschreibt die Bedeutung des Blickkontakts in unserem Verhältnis zu
Tieren. Er erinnert uns daran, dass uns Tiere sehr ähnlich und
gleichzeitig sehr anders sind. Diese Erfahrung war für frühere
Zeiten Grundlage einer Beziehung, durch die wir Tiere achten und sie
– ohne wegzusehen – töten und essen konnten. Heute schauen wir
in die Augen unserer Haustiere und sind in der Gefahr, sie zu
vermenschlichen, das Fleisch, das wir essen aber ist portioniert,
plastikverpackt und darf in nichts daran erinnern, dass es einmal
Augen gehabt hat und uns anschauen konnte. Ferkel werden in der Mast
nach 10 Tagen von ihren Müttern getrennt (in der Natur werden sie
mit 13 Wochen entwöhnt), damit sie schneller zunehmen. Nach 4
Monaten (früher: nach 1½ Jahren) haben sie ihr Schlachtgewicht
erreicht. Durch die zu frühe Entwöhnung haben sie lebenslang das
Bedürfnis, zu saugen, menschlich gesagt zu regredieren. Ihr Leben
hat keinerlei andere Ebene als die Produktion von Fleisch. Vorstellungen von der Würde
des Lebens und des Leidens verdampfen. Michael Pollan, ein
Journalistikprofessor, der über Ökologie und Ethik des Essens
arbeitet, schlägt vor, ein Gesetz zu erlassen, „nach dem die
Beton- und Blechwände der Mastanlagen durch Glas ersetzt werden.
Wenn es ‚neue Rechte’ zu verwirklichen gilt, dann wohl vor allem
das Recht zum Hinsehen.“ Was würde passieren, würden die Wände
unserer Fleischfabriken durchsichtig und wir würden hineinsehen? Herr, erhöre mich bald, ich kann nicht mehr, verbirg dein Angesicht nicht vor mir, sonst ist es um mein Leben geschehen“ so heißt es im Psalm 143. Dieses Gebet drückt die Hoffnung aus, dass Gott hinsieht, dass er nicht wegschaut. Das Hinsehen, das sich nicht Wegdrehen ist etwas wert und es prägt unser Wahrnehmen und unsre Wahrheit. Üben wir das Hinsehen, die befreiende Kraft des Blickes, der Beziehung stiftet, der durchblicken lässt und Perspektive gewinnen lässt. Wir kommen in Beziehung zu Gott, der wahrnimmt, was ist, und der nichts vergisst. Das Angesicht Gottes verkörpert die Hoffnung, dass da jemand ist, der zuschaut, und nicht wegschaut und der das Geschehene aufbewahrt, der nicht vergisst. So, dass es für Menschen wie für Tiere gilt, was in jedem Gottesdienst zum Abschluss gehört werden kann: Der Herr segne euch und behüte
euch. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch
gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch
Frieden.
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