Das Evangelische WortSonntag, 12. 02. 2006, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Mag. Roland Ritter-Werneck, Studienleiter
an der Evangelischen Akademie Wien
„Lassen
wir die Kirche doch im Dorf!“ In letzter Zeit ist mir diese
Redewendung wieder öfter aufgefallen. Sie wird gerne von Politikern
und Politikerinnen aller Parteien verwendet. Gemeint ist damit:
„Das geht zu weit, übertreiben wir nicht, kehren wir zur
Sachlichkeit zurück!“ So wie die Kirche ihren rechten Platz
mitten im Dorf hat, so soll man mit seinen Ansichten im Rahmen
bleiben. Ich muss gestehen, mich ärgert diese Redewendung jedes
Mal, wenn ich sie höre. Welches Bild von Kirche steckt dahinter?
Warum ist die Kirche im Dorf Symbol für Zurückhaltung,
Bescheidenheit, das Unveränderbare? Zur
Zeit der Bibel gab es noch keine Kirchengebäude, weder in Dörfern
noch in Städten. Das Wort, das wir mit Kirche übersetzen, wird im
Neuen Testament für die Versammlung der an Jesus als Messias
Glaubenden gebraucht. Diese Versammlung kennt keine Grenzen, weder
Dorfgrenzen noch Grenzen bei der Zugehörigkeit zu Völkern und
Nationen oder zu einem Geschlecht.
Wenn
wir den Begriff Kirche im biblischen Sinn verwenden, dann ist es
geradezu absurd, zu fordern, sie im Dorf zu lassen. Denn dann ist
Kirche etwas Visionäres, Weltumspannendes. Sie meint die
Gemeinschaft der Christenmenschen auf der ganzen Welt, die ganze
bewohnte Erde, mit einem griechischen Fremdwort: die Ökumene. In
der kommenden Woche lassen wir die Kirche nicht im Dorf. Vom 14. bis
23. Februar findet in Porto Allegre in Brasilien zum 9. Mal eine große
weltumspannende ökumenische Kirchenversammlung statt. Mehr als 3000
Entsandte von fast allen christlichen Konfessionen aus allen
Erdteilen kommen dort zusammen. Auch die österreichischen Kirchen
werden vertreten sein. Voraussichtlich wird diese Vollversammlung
des Ökumenischen Rates der Kirchen als die mit dem breitesten
Spektrum christlicher Traditionen in die Geschichte eingehen. Das
Motto der Versammlung klingt höchst unbescheiden, ja in den Ohren
vieler wahrscheinlich übertrieben und unsachlich: „In deiner
Gnade, Gott, verwandle die Welt!“
Das
ist es, worum es dem christlichen Glauben geht. Um die Verwandlung
der Welt. Um nichts weniger. Mit rechtem Maß und Bescheidenheit hat
das nichts zu tun. Wenn wir Gott darum bitten, die Welt zu
verwandeln, dann bitten wir um Gerechtigkeit und Frieden, um die
Bewahrung der Schöpfung.
Wie
die Wege Gottes aussehen, die Welt zu verwandeln, darüber gehen die
Meinungen auch in den Kirchen manchmal weit auseinander. Auf der
Versammlung von Porto Allegre werden auch die heißen Themen
angesprochen werden, die die Zukunft der ganzen Menschheit
betreffen: Die Fragen nach einem gerechteren Wirtschaftssystem, nach
der gewaltfreien Lösung von Konflikten, das Verhältnis zwischen
den Geschlechtern. Christen und Christinnen aus den armen Ländern
z.B. in Afrika werden den Glaubensgeschwistern aus dem reichen
Norden und Westen unangenehme Fragen stellen. Wie lässt sich Gottes
Wille mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit vereinbaren, dass täglich
tausende Kinder auf dieser Erde verhungern müssen?
Frauen
aus den Kirchen der Reformation werden Vertreter anderer Kirchen
fragen, wie sie es damit halten, dass es vor Gott keine
Rangunterschiede zwischen den Geschlechtern gibt.
In
Porto Allegre wird über den christlichen Glauben und den
Gottesdienst gestritten werden. Aber es wird auch miteinander
gebetet und gefeiert werden. Die bunte Vielfalt der ganzen
Christenheit auf Erden wird zum Ausdruck kommen. Ich bin froh, dass
es diese Vielfalt gibt. Gott wollte keine Kirche, in der alle gleich
aussehen und gleich denken.
In
deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt! Christen und Christinnen auf
der ganzen Welt hoffen und beten in den kommenden Tagen, dass der
heilige Geist die Ökumenische Versammlung in Porto Allegre zu
Schritten führt, die die Verwandlung der Welt nach Gottes Willen
vorantreiben. An einem Punkt bin ich mir ganz sicher: Der heilige
Geist lässt die Kirche nicht im Dorf!
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