Das Evangelische Wort

Sonntag, 26. 03. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Ulrich H. J. Körtner

 

 

Was mich an dem Theologen Dietrich Bonhoeffer, dessen 100. Geburtstag
vor kurzem begangen wurde, immer wieder aufs Neue beeindruckt, ist die Art und Weise, in der er die Fragmenthaftigkeit seines Lebens aus seinem Glauben heraus bejaht hat und sich in tiefer Dankbarkeit eingeübt hat. Dankbarkeit galt ihm auch als entscheidende Grundlage jeder christlichen Ethik. In einem Brief an seinen Freund Eberhard Bethge schrieb Bonhoeffer im November 1943:

 

„In den vergangenen Monaten habe ich

wie noch nie erfahren, daß ich alles, was

ich hier an Erleichterungen und Hilfe

bekomme, nicht mir selbst, sondern

anderen Menschen verdanke. Ich habe

früher gelegentlich empfunden, daß Du

unter der Tatsache, daß auch Du viel in

Deinem Leben anderen Menschen

verdankst, etwas leidest. Aber das ist

eben ganz verkehrt. Der Wunsch, alles

durch sich selbst sein zu wollen, ist ein

falscher Stolz. Auch was man anderen

verdankt, gehört eben zu einem und ist

ein Stück des eigenen Lebens, und das

Ausrechnenwollen, was man sich selbst

‚verdient‘ hat und was man anderen

verdankt, ist sicher nicht christlich und im

übrigen ein aussichtsloses

Unternehmen. Man ist eben mit dem,

was man selbst ist und was man

empfängt, ein Ganzes.“

 

Niemand ist eine Insel. Autonomie und Selbstbestimmtheit dürfen nicht mit Autarkie und völliger Unabhängigkeit verwechselt werden. Vielmehr zeichnet unser Leben von Beginn an eine chronische Bedürftigkeit und eine unendliche Angewiesenheit aus. Zum Menschsein gehört eine eigentümliche Grundpassivität. Sie zeigt sich nicht nur in Geburt und Tod, im Leiden, in unserer Hilfsbedürftigkeit und Verletzlichkeit, sondern vor allem in der Liebe und im Verzeihen. Das Entscheidende kann der Mensch sich selbst nicht geben: Liebe und Vergebung. Sie kann er nur als Geschenk bzw. als Gnade empfangen. Darum konnte der dänische Philosoph Sören Kierkegaard einmal sagen:

 

„Gottes bedürfen ist die höchste Vollkommenheit.“

 

Der christliche Glaube kultiviert die Erfahrung und das Bewusstsein unserer Empfänglichkeit. „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“, erinnert Paulus seine Leser im 1. Korintherbrief. Und Paulus ist es auch, der von der Erfahrung spricht, dass die Kraft Gottes in den Schwachen mächtig ist nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann. Darin besteht, wenn man so will die Umwertung der Werte im Christentum.

Diese Einsicht kann uns zum Beispiel bei unserem Umgang mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit helfen. Ein abstrakter Begriff von Patientenautonomie verwechselt Selbstbestimmung leicht mit gänzlicher Unabhängigkeit. Gehört Krankheit zum Leben dazu, ist jedoch nicht abstrakte Autonomie, sondern Souveränität das angemessene Persönlichkeitsideal. Der Philosoph Gernot Böhme und seine Frau, die Soziologin Farideh Akashe-Böhme, schreiben:

 

„Ein Mensch ist souverän, wenn er mit

sich etwas geschehen lassen und

Abhängigkeiten hinnehmen kann.“

 

Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten Bonhoeffers und einem christlichen Verständnis von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können.

 

Bonhoeffer wollte, wie er einmal schrieb, kein Heiliger werden, sondern glauben lernen. Glauben lernen bedeutet nicht nur, für Gott oder irgendeine Form der Transzendenz, sondern auch für die Welt um uns herum und für unsere Mitmenschen besonders empfänglich und aufmerksam zu werden. Der Empfänglichkeit aber entspricht die Dankbarkeit. Und so verstehe ich den christlichen Glauben: als Schule meiner Empfänglichkeit und als Einübung in die Dankbarkeit.

 

 

 

Quellenangaben: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Chr. Gremmels, E. Bethge u. R. Bethge in Zusammenarbeit mit I. Tödt (DBW 8). Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998, S. 216; G. Böhme/F. Akashe-Böhme, Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen. Beck’sche Reihe 1620. C.H. Beck, München  S. 62.