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Das Evangelische WortSonntag, 26. 03. 2006, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Ulrich H. J. Körtner Was
mich an dem Theologen Dietrich Bonhoeffer, dessen 100. Geburtstag „In den vergangenen Monaten habe ich wie noch nie erfahren, daß ich alles, was ich hier an Erleichterungen und Hilfe bekomme, nicht mir selbst, sondern anderen Menschen verdanke. Ich habe früher gelegentlich empfunden, daß Du unter der Tatsache, daß auch Du viel in Deinem Leben anderen Menschen verdankst, etwas leidest. Aber das ist eben ganz verkehrt. Der Wunsch, alles durch sich selbst sein zu wollen, ist ein falscher Stolz. Auch was man anderen verdankt, gehört eben zu einem und ist ein Stück des eigenen Lebens, und das Ausrechnenwollen, was man sich selbst ‚verdient‘ hat und was man anderen verdankt, ist sicher nicht christlich und im übrigen ein aussichtsloses Unternehmen. Man ist eben mit dem, was man selbst ist und was man empfängt,
ein Ganzes.“ Niemand
ist eine Insel. Autonomie und Selbstbestimmtheit dürfen nicht mit
Autarkie und völliger Unabhängigkeit verwechselt werden. Vielmehr
zeichnet unser Leben von Beginn an eine chronische Bedürftigkeit
und eine unendliche Angewiesenheit aus. Zum Menschsein gehört eine
eigentümliche Grundpassivität. Sie zeigt sich nicht nur in Geburt
und Tod, im Leiden, in unserer Hilfsbedürftigkeit und
Verletzlichkeit, sondern vor allem in der Liebe und im Verzeihen.
Das Entscheidende kann der Mensch sich selbst nicht geben: Liebe und
Vergebung. Sie kann er nur als Geschenk bzw. als Gnade empfangen.
Darum konnte der dänische Philosoph Sören Kierkegaard einmal
sagen: „Gottes
bedürfen ist die höchste Vollkommenheit.“ Der
christliche Glaube kultiviert die Erfahrung und das Bewusstsein
unserer Empfänglichkeit. „Was hast du, das du nicht empfangen
hast?“, erinnert Paulus seine Leser im 1. Korintherbrief. Und
Paulus ist es auch, der von der Erfahrung spricht, dass die Kraft
Gottes in den Schwachen mächtig ist nichts uns von der Liebe Gottes
scheiden kann. Darin besteht, wenn man so will die Umwertung der
Werte im Christentum. Diese
Einsicht kann uns zum Beispiel bei unserem Umgang mit Krankheit und
Pflegebedürftigkeit helfen. Ein abstrakter Begriff von
Patientenautonomie verwechselt Selbstbestimmung leicht mit gänzlicher
Unabhängigkeit. Gehört Krankheit zum Leben dazu, ist jedoch nicht
abstrakte Autonomie, sondern Souveränität das angemessene Persönlichkeitsideal.
Der Philosoph Gernot Böhme und seine Frau, die Soziologin Farideh
Akashe-Böhme, schreiben: „Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten
hinnehmen kann.“ Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten Bonhoeffers und einem christlichen Verständnis von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können. Bonhoeffer
wollte, wie er einmal schrieb, kein Heiliger werden, sondern glauben
lernen. Glauben lernen bedeutet nicht nur, für Gott oder irgendeine
Form der Transzendenz, sondern auch für die Welt um uns herum und für
unsere Mitmenschen besonders empfänglich und aufmerksam zu werden.
Der Empfänglichkeit aber entspricht die Dankbarkeit. Und so
verstehe ich den christlichen Glauben: als Schule meiner Empfänglichkeit
und als Einübung in die Dankbarkeit.
Quellenangaben:
Dietrich
Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus
der Haft, hg. v. Chr. Gremmels, E. Bethge u. R. Bethge in
Zusammenarbeit mit I. Tödt (DBW 8). Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
1998, S. 216; G. Böhme/F. Akashe-Böhme, Mit Krankheit leben. Von
der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen. Beck’sche Reihe 1620.
C.H. Beck, München S.
62.
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