Das Evangelische Wort

Sonntag, 19. 03. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

von Pfarrerin Ingrid Tschank

 

 

Keine Zeit des Jahres scheint angemessener zu sein, über Tränen zu sprechen als die Passionszeit. Tränen halten sich zwar nicht an Kalendereinteilungen, aber in der Passionszeit nehmen sie einen besonderen Platz ein.

 

Tränen sind ein wichtiger Teil der menschlichen Gefühlswelt. Sie gehören unbedingt zur Persönlichkeit wie das Lachen, die Sprache, der Zorn und die Liebe. Ein Mensch, der nicht weinen kann, der tut sich selbst Gewalt an. Unsere Sprache zeigt das ganz deutlich. Nicht geweinte Tränen, das sind diejenigen, die unterdrückt, niedergehalten und erstickt wurden. Meistens brechen sie sich eines Tages eine andere Bahn und kommen aus der tiefe der Seele in verschlüsselter Form hervor. Sie werden dann Depression, Orientierungslosigkeit oder Verzweiflung genannt.

 

Im 12. Jahrhundert hat sich in einem französischen Kloster folgende Geschichte ereignet. Eines Tages kommt Bruder Nikolaus in das Kloster Clairvaux. Er sucht dort Zuflucht und Schutz vor der Welt, denn er kann das viele Leid, das er um sich erlebt, nicht mehr ertragen. Er bitte Abt Bernhard, er möge bei Gott für ihn die Gnade der Tränen erbitten, denn sein Herz sei so sehr erschüttert, dass er zu keinem Tränenfluss mehr fähig sei. Der Abt betet für den jungen Bruder und tatsächlich geschieht es, dass sich die Augen von Nikolaus über und über mit Tränen füllen. Ohne die Gnade der Tränen hätte Bruder Nikolaus auch in der Abgeschiedenheit des Klosters keine Ruhe gefunden, denn seine Trauer und Verzweiflung waren nicht sein eigentliches Leid. Sein größtes Leid bestand darin, dass er seinen Empfindungen keinen Ausdruck geben konnte.

 

Im frühen Kindesalter lernen Menschen, den Fluss der Tränen abzuwürgen. Kindern wird auch heute noch häufig gesagt, sie sollen aufhören zu weinen. Daher wundert es nicht, dass später viele Erwachsene ihr verweintes Gesicht hinter den Händen verstecken, sich abwenden und so rasch wie möglich die Spuren ihrer Tränen wegwischen wollen.

In der Bibel fließen jedoch die Tränen reichlich, und es sind Erwachsene, die nicht an sich halten können. Die Augen des Propheten Jeremia müssen von Tränen überfließen und im Buch des Predigers werden wir daran erinnert, dass auch das Weinen seine Zeit hat. Der Beter des Psalms 39 äußert die Bitte: "Schweige nicht zu meinen Tränen" und die Verheißung, dass die, die mit Tränen säen, in Freuden ernten werden, findet sich ebenso im Alten Testament.

Bei Gott ist keine einzige Träne umsonst vergossen und es geht keine von ihnen verloren, denn Gott sammelt die Tränen in seinem Krug. Davon waren die Menschen in alter Zeit überzeugt. Die Leiderfahrungen von Menschen werden in der Bibel nicht geleugnet oder herabgemindert, sie werden auch nicht überhöht. Auch im Leben Jesu spielen Tränen eine wichtige Rolle. Sie umspannen sogar sein Leben wie einen Bogen. Am Anfang steht das Weinen und Wehklagen über den Kindermord in Bethlehem und am Ende weint Maria bittere Tränen am Grab ihres Sohnes. Auch Jesus selbst muss weinen. Mit Tränen klagt er um sein geliebtes Jerusalem, und die Augen gehen ihm beim Anblick seines toten Freundes Lazarus über. Jesus kennt die heilende und stärkende Kraft der Tränen, wenn er zu seinen Jüngerinnen und Jüngern im Lukasevangelium (23, 26-31) sagt: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint“.

 

Der Mensch weint aus der Mitte seiner Persönlichkeit. Darum gehört es zur Würde des Menschen, weinen zu können und auf Tränen anderer zu achten. Wenn „die Tränen, von den Augen nicht vergossen werden, kehren sie zurück zu den Säften, die sich im menschlichen Körper befinden, machen sie bitter und scharf wie Essig und trocknen die Brust aus“, sagt die Mystikerin Hildegard von Bingen.

 

Schämen wir uns also nicht unsere Tränen, denn sie gehören zu dem was Menschsein ausmacht. Wer nicht weint, der kann auch nicht lachen. Wer nicht lacht, kann nicht lieben, und wer nicht liebt, der kann auch nicht leben.