Das Evangelische Wort

Sonntag, 11. 06. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrerin Renate Moshammer, Agoritschach-Arnoldstein, Kärnten

 

 

Schon seit einiger Zeit beschäftige ich mich immer wieder mit Labyrinthen. Im Unterschied zum Irrgarten, der über Kreuzungen und Sackgassen verfügt, hat ein Labyrinth nur einen Weg – und der führt zur Mitte. Wer diesen Weg geht ist sich also seines Zieles sicher. Einfach ist es trotzdem nicht. Denn wer sich auf ein Labyrinth einlässt, der muss doch viele Windungen gehen. Er glaubt sich vielleicht schon fast am Ziel, es ist schon zum Greifen nahe, da führt ihn sein Weg wieder hinaus an den äußersten Rand.

 

Beim Abschreiten eines Labyrinths habe ich gelernt: Kein Schritt ist vergebens. Kein Schritt ist umsonst. Jede Windung eröffnet eine neue Perspektive. Und selbst die Entfernung von der Mitte bringt mich in der letzten Konsequenz meinem Ziel näher.

 

Auch wenn sich das Wort „Labyrinth“ nicht in der Bibel findet, so werden darin doch immer wieder Lebenswege beschrieben, die den Gesetzen eines Labyrinths zu folgen scheinen.

So wie zum Beispiel der Weg der Ruth. Sie sagt zu ihrer Schwiegermutter:

 

Wo du hingehst, da will auch ich hingehen. Wo du bleibst, da bleibe auch ich.

Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.                              Ruth 1, 16

 

Dabei riskiert sie viel. Ruth ist eine Frau und Ausländerin. Ein Wirtschaftsflüchtling. Ihr Mann, der ihr Sicherheit bieten könnte, ist gestorben. Sie ist Witwe. Weiter unten kann man in der sozialen Hierarchie nicht mehr stehen. Trotzdem bleibt sie ihrem Weg treu.

 

Auch wenn ihr keine Abschiebung droht – Arbeit hat sie natürlich auch keine – ist ihre Zukunft ungewiss. Die wirtschaftliche Lage im Land gibt ihr kaum eine Chance. Die rechtliche Situation ist verfahren.

 

Ruth kämpft gegen die Vorurteile und den Hunger, gegen die Rechtlosigkeit und die Verzweiflung. Immer wieder muss sie erleben, dass ihr Ziel in weite Ferne rückt.

Ihr Ziel: eine Heimat zu finden und sich selbst eine Lebensgrundlage zu schaffen.

Wenn sie nun aufgegeben hätte, ihr Leben als Irrweg abgetan hätte und den Schritt in die Zukunft nur als Schritt in die nächste Sackgasse verstanden hätte – wir würden heute ihren Namen nicht mehr kennen.

Aber Schritt für Schritt geht Ruth weiter. Schritt für Schritt erwirbt sie das Vertrauen ihrer Umwelt und die Liebe von Boas, eines entfernten Verwandten.

 

Mit seiner Hilfe gelangt sie zum Ziel. Sie kann bleiben. Sie, die Ausländerin, die Fremde, die Rechtlose findet Heimat, Familie und Schutz.

 

Vor einigen Monaten ist mir ein Buch von Gernot Candolini in die Hände gefallen. Ein Buch über seine Arbeit mit Labyrinthen. Darin schreibt er: „Wenn unser Leben ein Irrgarten ist, dann ist die Grundstimmung unseres Lebens die Angst vor Irrtum und Verlorensein. Wenn unser Leben ein Labyrinth ist, dann haben wir eine Mitte und unsere Grundstimmung ist das Vertrauen in eine letzte Geborgenheit.“

 

Ruth ist von diesem Vertrauen getragen worden. Von dem Vertrauen in einen Gott, der auf der Seite der Rechtlosen steht. Von dem Vertrauen in einen Gott, der den Weg der Menschen mitgeht. So ist Ruth ihren Weg gegangen; jede einzelne Kehre. Bis sie zur Mitte gefunden hat.

 

Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott.

 

Ruth macht mir durch ihren Weg Mut, meinen Weg zu gehen. Sie zeigt mir, was möglich ist, wenn man aus dem Vertrauen heraus lebt. Wenn man nicht stehen bleibt oder zurückgeht, sondern den Weg weiter wagt.

Sie zeigt mir was möglich ist, wenn man sich nicht abfindet mit dem, was immer schon so gewesen ist und was sich ohnehin nicht ändern lässt. Sie zeigt mir einen Weg in die Zukunft.

Ach ja, sie bekommt auch einen Sohn. Und ihr Urenkel, der Urenkel dieser arbeitslosen und rechtlosen Ausländerin heißt David. Als König Israels ist er in die Geschichte eingegangen – und als Vorfahre Jesu.