Das Evangelische Wort

Sonntag, 20. 08. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

                        

 

 

von Pfarrer Mag. Werner Geißelbrecht (Lutherische Stadtkirche Wien)

 

 

In evangelischen Gottesdiensten feiern wir heute den so genannten Israelsonntag. Lesungen und Lieder, Gebete und die Predigt beziehen sich auf das Volk, von dem die Bibel sagt: Gott hat es sich erwählt.

 

Jahrhundertelang ist dieser Gedenktag missbraucht worden in unseren Kirchen. Selbstgefällig hat man behauptet, der Herr habe Israel verworfen und die Christenheit sei an seine Stelle gerückt als Gottes geliebtes Volk. Fleißig hat man auf diese Weise die ohnehin weit verbreitete Feindseeligkeit den Juden gegenüber geschürt. Heute wissen wir, in welche unfassbaren Abgründe das alles geführt hat.

 

Uns Protestanten belasten dabei besonders auch Schriften Martin Luthers, in denen er die gnadenlose Vertreibung und Verfolgung der Juden fordert. Diese Texte verwerfen wir heute. Und dass ein in vieler Hinsicht so begnadeter Theologe sich derart verirren und schuldig machen konnte, mahnt uns zur wachen Aufmerksamkeit und zum kritischen Hinterfragen jeder Auslegung der Bibel.

 

Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Kirchen ihre Sicht des Judentums grundlegend überdacht und neu definiert. Seitdem wird der Israelsonntag zum Anlass genommen, „Gottes erster Liebe“ mit Hochachtung zu gedenken:

 

Wir besinnen uns auf die jüdischen Wurzeln des Christentums. Dankbar feiern wir unsere tiefe und bleibende Verbundenheit im Glauben an den einen Gott.

 

Wir bekennen die historische Schuld, die Christinnen und Christen auf sich geladen haben durch Judenhass und Antisemitismus.

 

Wir bemühen uns um Begegnung und Dialog mit unseren älteren Geschwistern im Glauben.

 

Wir beten um Versöhnung zwischen Juden, Christen und Muslimen. Und um Frieden für  Israel und Palästina.

 

Dass die Annäherung der Kirche an die Synagoge erst nach der Katastrophe des Holocaust möglich wurde, ist eine tragische Ironie des Schicksals. Aber immerhin: ein tief greifender und von gegenseitigem Respekt geprägter christlich-jüdischer Dialog ist in Gang gekommen.

 

Heute fragen wir uns: Wir konnten wir so lange blind sein? – Blind für den Reichtum und die Schönheit der jüdisch-religiösen Tradition, aus der das Christentum immer geschöpft hat und weiterhin schöpft. Blind für unsere eigene tiefe Verwurzelung und innige Verbundenheit im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Blind dafür, dass auch Jesus selbstverständlich Jude war mit Haut und Haar.

 

Als Jude wird er geboren, wächst auf als ein Sohn Israels. Als jüdischer Rabbi, Lehrer und Heiler zieht er durch Palästina. Als einen Aufrührer aus dem Volk der Juden richten die Römer ihn hin. Er kennt die hebräische Bibel und erzählt die wunderbaren Geschichten von Liebe und Leid, von Hoffnung und Trost, vom Gott der Väter und Mütter und seiner liebevollen Zuwendung zu den Menschen.

„Das Heil kommt von den Juden“ [Joh 4,22], lesen wir im Johannesevangelium. Und eindringlich warnt Paulus die frühe Christenheit in Rom vor jeder religiösen Überheblichkeit Israel gegenüber: „Rühme dich nicht. Denn nicht du trägst die Wurzel – die Wurzel trägt dich!“ [Röm 11,18].

 

Was Jüdinnen und Juden erdulden und erleiden mussten im so genannten christlichen Abendland, können wir nicht ungeschehen machen. Erinnern aber können wir uns, aus der Vergangenheit lernen und eine bessere Zukunft gestalten.

 

Üben wir uns darum in Achtung, Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber unseren jüdischen Glaubensgeschwistern. Seien wir wachsam und widersprechen wir in aller Deutlichkeit jeder Form des religiösen, gesellschaftlichen oder persönlichen Antijudaismus. Hoffen wir, dass dieses Volk endlich zur Ruhe kommt; dass sich vor allem auch ein Weg auftut aus den politischen Wirren und dem tödlichen Kreislauf der Gewalt im Heiligen Land. Wünschen wir Israelis, Palästinensern und allen ihren Nachbarn, dass sie zu einem tragfähigen Frieden finden, in gegenseitiger Anerkennung und Achtung des Heimatrechtes. Halten wir fest am Glauben, dass dieses Wunder geschehen kann. Und beten wir dafür …