Das Evangelische Wort

Sonntag, 03. 09. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Dr. Jutta Henner

 

 

Den ganzen Sommer über sind sie mir nicht aus dem Sinn gegangen: Die Bilder, die fast täglich sich wiederholen sollten: Total erschöpfte, ausgemergelte Menschen, die am Strand einer Ferieninsel auf sonnenbadende Touristen treffen. Boote, alles andere als hochseetauglich, die sich auf die abenteuerliche Reise von der Nord- oder Westküste Afrikas in Richtung Europa aufmachen. An Bord viel zu viele Menschen voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Gelockt und getrieben von Schleppern, die schmutzige Geschäfte machten. Sie versprechen Menschen das vermeintliche Schlaraffenland. Viele erreichen ihr Ziel nicht, sterben vor Hunger, Hitze und Erschöpfung, ertrinken in stürmischen Wellen. Hunderte, Tausende haben sich heuer aufgemacht. Sie stranden an den Ufern Europas, junge Männer, Frauen und Kinder. Hunderttausende, so ist zu hören, warten nur darauf, sich auf abenteuerliche Weise durchzukämpfen in ein neues, besseres Leben.

 

Mich haben diese Bilder und die dahinter verborgenen Schicksale von namenlos gebliebenen Menschen im heurigen Sommer besonders bewegt. Obwohl mir das Problem an sich nicht neu ist. Seit einigen Jahren ist es ein Arbeitsbereich, ein Dauerprojekt der Österreichischen Bibelgesellschaft, im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten Flüchtlingen und Schubhäftlingen, so gewünscht, eine Bibel in der eigenen Sprache kostenlos zur Verfügung zu stellen. Oft bitten Flüchtlinge aber auch um eine englische oder französische Bibel, damit sich gerade Gruppen von Afrikanern untereinander über das Gelesene austauschen können.

 

Immer wieder habe ich in der persönlichen Begegnung die berührende Freude über eine solche Bibel gesehen: Es ist doppelte Freude: Etwas in der eigenen oder zumindest einer wohlvertrauten Sprache zu bekommen. Und die Freude darüber, aus der Bibel Trost, Hoffnung und Wegweisung zu erfahren. Also Identität und Orientierung zugleich.

 

Unser Projekt ist in den letzten Jahren, auch in Partnerschaft mit Hilfsorganisationen stetig gewachsen. Vielen Flüchtlingen konnte ich auch persönlich begegnen. Eine Zusammenkunft mit einigen Flüchtlingen aus Traiskirchen ist mir besonders lebendig in Erinnerung: Sie haben gesungen, getrommelt und getanzt, gemeinsam in der Bibel gelesen und gebetet. Ein fröhlicher, ein unter die Haut und zu Herzen gehender improvisierter Gottesdienst, getragen vor allem von den Afrikanern und ihrer Lebendigkeit. Überwältigende Freude über die von uns mitgebrachten Bibeln. Dankbarkeit dafür, dass sie es nach Europa geschafft haben.  Sorge vor einer ungewissen Zukunft. Das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Traumatisierende Erfahrungen in der Vergangenheit und Perspektivlosigkeit in der Gegenwart.

 

Ich könnte auch vom Besuch eines so genannten Schubhaftanhaltezentrums erzählen. Menschen aus vielen Nationen, mit vielen Sprachen, Kulturen und Hintergründen auf engem Raum zusammen. Menschen, die nichts zu verlieren haben und keinesfalls in ihre Heimat zurückwollen. Auf der anderen Seite Beamte, die in dieser schwierigen Situation ihren Dienst tun. Ängste auf beiden Seiten. Auch hier Freude über unsere Bibeln in vielen Sprachen und allseits Überraschung darüber, von wie großer Bedeutung die Botschaft der Bibel für die Flüchtlinge ist – und wie viele Worte und Geschichten der Bibel sie auswendig kannten!

 

Wenn ich die Bilder vom bereits sprichwörtlichen „Flüchtlingselend“ sehe, muss ich an Stanley und John und Thomas denken, auch an die junge Frau aus Nigeria, die mir erzählte, dass sie in ihrer Heimat vergewaltigt worden war, und an all die anderen.

 

Ich fühle mich ohnmächtig angesichts eines komplexen, vielschichtigen Problems. Ich habe viele Fragen. Wie kann es eine gerechtere Aufteilung der Ressourcen zwischen der ersten und der dritten Welt geben? Wie können Menschen in ihrer Heimat eine Zukunft bekommen? Ist es sinnvoll und gerecht, dass die sich aufmachen, die sich einen Schlepper leisten können?

 

Ich frage mich, wie Flüchtlinge, die hier bei uns in Österreich sind, etwas von Gastfreundschaft spüren können. Ich denke an die bereichernden persönlichen Begegnungen zurück und freue mich auf weitere im Herbst. Begegnungen unter Gottes Wort, der Bibel. In der Bibel ist das Wort für „Fremder“ gleichbedeutend mit dem Wort für „Gast“. Und ebendort lese ich einmal mehr schon in den ersten Büchern der Bibel die herausfordernden Worte über den Umgang mit Fremden: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.“ und: „Der Herr, euer Gott, hat die Fremdlinge lieb.“

Eine Herausforderung für das so genannte christliche Abendland!