Das Evangelische Wort

Sonntag, 01. 10. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Lutz Lehmann, Klagenfurt

 

 

Ein Gesetzeslehrer wollte mit Jesus diskutieren. Er fragte ihn: „Lehrer, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?“ Jesus fragte zurück: „Was steht denn im Gesetz? Was liest du dort?“ Der Gesetzeslehrer antwortete: „Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit aller deiner Kraft und deinem ganzen Verstand! Und: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!“ „Du hast richtig geantwortet“, sagte Jesus. „Handle so, dann wirst du leben.“


Dem Gesetzeslehrer war das zu einfach. Deshalb stellte er eine weitere Frage: „Wer ist denn eigentlich mein Mitmensch?“

(Lukas 10, 25-29)

 

 Wer sich auf eine Diskussion mit Jesus einlässt, muss damit rechnen, nicht die Antworten zu bekommen, mit denen er gerechnet hat. Statt bei eindeutigen Weisungen landet man oft genug beim eigenen Nachdenken, beim eigenen Gewissen, bei neuen Fragen. Was heißt es eigentlich, mich selbst zu lieben?

 

„Such dir einen Menschen aus, mit dem du vertraut bist und erzähle ihm 3 Minuten lang, was du besonders gut kannst!“ Das war der Arbeitsauftrag für eine Übung bei einem Training für kirchliche Jugendmitarbeiter am vergangenen Wochenende.

 

Wen würden Sie sich aussuchen aus Ihrem Bekanntenkreis und was würden Sie ihm erzählen 3 Minuten lang? Der Zuhörer, die Zuhörerin, dürfte Sie nicht unterbrechen - nur, wenn die Pause zu lang wird, fragen: „Und was noch?“

 

Eine Übung, die zu einfach ist um wirklich einfach zu sein - denn man hat mir ja lange genug beigebracht, besser nicht zu viel zu reden, über das, was ich besonders gut kann – „Eigenlob stinkt!“ Dabei gäbe es bei jedem von uns genug zu loben an Fähigkeiten, an Möglichkeiten, an Begabungen. Aber über was man nicht redet, das gerät in Vergessenheit oder es wird so selbstverständlich, dass es keiner mehr beachtet. Und wenn mich keiner mehr beachtet, staunt, sich mit mir freut über das, was ich besonders gut kann, dann dauert es nicht mehr lange, bis ich selbst die Freude daran, das Staunen darüber verliere. Ohne Staunen aber und ohne Freude an dem, was ich kann, wird das Gebot, mich zu lieben von einer einfachen zu einer unlösbaren Aufgabe. Und wenn ich mir überlege, welche Folgen das für die Liebe zu meinen Mitmenschen hat, dann fallen mir die spielenden Kinder aus meiner frühen Jugend am Strand von Caorle ein: Wenn man da mit seiner eigenen Sandburg nicht zufrieden war, dann hatte man ja immer noch die Möglichkeit, die Burg des Nachbarkindes platt zu machen ...

 

Heute geht es nicht mehr um Sandburgen. Es geht um das Zusammenleben der Menschen in unserem Land. Ich werde mir darum heute noch einmal die 3 Minuten Zeit nehmen für die Übung der Jugendlichen. Wenn ich mir nämlich auf diese Weise meiner Stärken bewusst werde, und Gründe zum Selbstvertrauen finde, zum „Liebe Dich selbst“, dann kann es so weit kommen, dass ich den Mitmenschen, so anders er auch sein mag als ich, nicht mehr als Bedrohung oder Konkurrenz sehe, sondern als Helferin, als Helfer erkenne.

 

Wenn auch Sie diese Übung machen wollen, kalkulieren sie bitte 6 Minuten ein. Denn auch Ihr Mitmensch, Ihr Gegenüber, soll die Zeit bekommen, um Ihnen zu erzählen, was er oder sie ganz besonders gut kann. Sie werden staunen und sich freuen.

 

Und, bitte: vergessen Sie nicht nachzufragen: „Und was noch?“