Das Evangelische Wort

Sonntag, 19. 11. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrerin Ingrid Bachler (Wels,OÖ)

 

 

In meinem Wohnort gibt es seit einiger Zeit eine neue Ampel, die mir als Fußgängerin die Sekunden anzeigt, die ich noch warten muss, bevor ihr Licht wieder auf Grün springt. Jedes Mal und immer nur wenn ich vor dieser Ampel stehe, erinnern mich die deutlich sichtbar verstreichenden Sekunden eigenartigerweise auch an die ebenso schnell verstreichende Zeit meines Lebens. Viele Wege gehe ich täglich, aber ausgerechnet diese Ampel lässt mich nicht nur äußerlich innehalten, sondern macht mir auch innerlich das Verrinnen der Zeit bewusst. Nämlich meiner persönlichen Lebenszeit.

Der Tod ist sicher, nicht die Stunde wann, fällt mir dabei ein und alles ist nur Übergang.

 

Das Beobachten der laufenden Sekunden dieser Ampel, gestattet mir die ruhige Annäherung an das Thema Tod und Endlichkeit. Der Übergang von einer Straßenseite auf die andere, wird mir so jedes Mal zur Herausforderung für meinen eigenen, letzten Übergang.

 

Was für mich der Übergang der Straße symbolisiert, ist für einen anderen die Überfahrt.

Dabei fällt mir immer wieder ein Bild des Linzer Malers Fritz Aigner ein. Bei ihm wird der Übergang zur letzten Überfahrt in einem Boot.

 

Er malt sich selbst mit einem Freund in diesem Boot sitzend. In seiner rechten Hand hält er einen goldenen Pokal und seine Linke über eine Schale, aus der schwarzer Rauch strömt. Im Pokal brennt ein Feuer, das sich in ein rotes, verschlungenes Band verwandelt und wie eine Pfeilspitze über das Wasser zieht, direkt in den Mittelpunkt der untergehenden Sonne am Horizont. Der Freund hat seinen Arm um ihn gelegt. Das Bild zeigt im Stil des fantastischen Realismus den Abschied des Malers Fritz Aigner von einem verstorbenen Freund und Nachtclubbesitzer, den er in seinen letzten Tagen begleitete.

 

„Wochenlang vor seinem plötzlichen Tod bin ich bei ihm gesessen und brachte ihm ab und zu ein kleines Selbstportrait zum Ankauf. Eines furchtbarer als das andere und ich wunderte mich, dass er solche Bilder ertrug und ich musste mich selbst fragen, warum ich derartige Bilder malen musste.“

 

Sein Freund Herbert L. war schwer zuckerkrank und 48 Jahre alt. Er hielt sich nicht, tat alles, was er nicht tun durfte.

Der Maler Fritz bearbeitet mit der Überfahrt seinen Abschiedsschmerz um den verlorenen Freund und seinen Kampf mit sich selber. Der Pokal, den er in seinen Händen hält, war ursprünglich als Siegespokal gedacht, weil er gerade Großvater geworden war, aber nun, nach dem Tod seines Freundes, empfand er ihn nicht mehr als Siegespokal und ließ ihn feurigen Inhalt hervorlodern. Die schrecklichen Selbstportraits, die er ihm brachte, beschreiben seine Ängste - wie er später selbst erzählt - sein Unvermögen zu helfen und das unbewusste Mitleben mit der Not des Freundes.

 Er war nahezu getrieben dieses Bild der Überfahrt zu malen:

 

Es war, als würde Herbert L. meine Pinsel führen und mir sagen: „Lass die Kinkerlitzchen weg“, die sich immer wieder zeigen wollten. Nebensächlichkeiten, die ich immer wieder wegmalen musste, ich malte sozusagen mehr weg, als ich hinzumalte, bis ich in drei Wochen intensiver Arbeit, ganz einsam in einer wunderbaren weiten und wilden Landschaft die Idee dieses Bildes konzipierte.

 

Fritz Aigner hat mittlerweile selber den Weg der letzten Überfahrt hinter sich gebracht. Er starb im Jänner 2005. Sein Bild wollte er nicht als Todesbild bezeichnet wissen, im Gegenteil, als eine Art seltsame Befreiung davor. Er sprach von einer Gewissheit, die ihm wie im Traum gegeben worden war, an die wir eigentlich nur glauben können. Aber der Wille zum Glauben ist ja die Basis der Religion und die Hoffnung der lebenden Menschen vor der Türe des Todes – denn alles ist nur Übergang.