Das Evangelische Wort

Sonntag, 10. 12. 2006,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Und immer noch ein Rechtsmittel“

von Pfarrer Matthias Geist

 

 

Für jeden Angeklagten unseres Landes gilt die Unschuldsvermutung. Bis zum rechtskräftigen Urteil. Und so sitzt er da: der 41jährige Häftling - seit mehr als zwei Jahren weiß er nicht und wartet darauf, welche Strafzeit er noch absitzen wird müssen. Dieses Warten ist für ihn eine Zerreißprobe. Vor allem weil die Zukunft absolut ungewiss ist. Doch - vom Freispruch bis zum lebenslänglichen Strafausmaß: Selbst ein gerichtliches Urteil kann wieder und wieder angefochten werden. Von beiden Seiten, von der Staatsanwaltschaft und vom Verteidiger. Nichtigkeitsbeschwerden und Berufungen gegen Urteile stehen an der Tagesordnung von Gerichten. Sie verzögern das Warten, das zermürbend und voller Hoffnung zugleich sein kann. Und dennoch, manchmal erst nach Jahren: irgendwann ist es rechtskräftig - das Urteil. Das muss dann akzeptiert werden, wie nachvollziehbar oder hart es auch sein mag. Das ist dann oft die härteste Probe in der Strafzeit.

 

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an. Unter uns gesagt: Wir können gar nicht anders. Wir Menschen nehmen an, dass eine Wahrheit in der Wirklichkeit steckt. Und diese Wirklichkeit ist uns vor Augen. Wir spazieren über die grüne Ampel und vertrauen darauf, dass wir keinen Schaden erleiden. Wir treten auf die Bremse und nehmen an, dass wir rechtzeitig stehen bleiben werden. Unser Urteil greift aber immer zu kurz. Wir haben auch blinde Flecken - im Straßenverkehr wie in der Einschätzung unserer persönlichen Beziehungen. Und da wird das Urteilen, das richtige Bemessen oft zu einem abschließenden Richten ohne mögliches Rechtsmittel dagegen.

 

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

 

Die Wirklichkeit vor Augen regt eben zu Vermutungen an, die sich verfestigen. Auch über Menschen. Auch wenn wir noch so wenig in sie hineinsehen können. Denn wer unter uns über andere entscheidet und richtet, ist befangen, ja auch geblendet. Wenn sich gute Freunde plötzlich nicht mehr ansehen können und sich gegenseitig auch anschwärzen. Dann verlieren sie ihr "Ansehen" voreinander. So wird das menschliche Urteilen irgendwann ein endgültiges, bleibendes. Es lässt sich nach menschlichem Ermessen oft nicht mehr aufheben. Mit keinem Rechtsmittel. Gottes Gericht ist anders als irdische Gerichte, deren rechtskräftige Urteile zu akzeptieren sind. DAS feiern wir im Advent, der Zeit des Wartens. Wir warten auf die heilsame Botschaft, dass sich das Urteil über uns nicht an äußeren Maßstäben orientiert. Das Herz auf unserer Seite erlebt Gottes Gnade auf der anderen Seite. Gott gibt uns Ansehen, sieht unser Herz an und räumt immer wieder Rechtsmittel ein. Weil wir es Gott wert sind. Indem er unser Herz wieder ansieht und selber Mensch wird.

 

Es gibt ein Richten und Urteilen, das immer wieder neu die Unschuldsvermutung aufstellt: Ganz und gar unschuldig sind wir! Nicht auf der Flucht. Sondern im hoffenden Erwarten einer riesigen Erleichterung. Wir werden angesehen, wie wir sind. Wirklich! Die Gnade ist darin begründet, dass wir nicht die Verfolgten, die Verurteilten oder die Kämpfer um noch eine letzte Chance sind. Wir sind die Be-Gnadeten, die selbst den abgeschlossensten Rechtsakt wieder geöffnet bekommen.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an.