Das Evangelische Wort

Sonntag, 10. 06. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Johanna Zeuner, Pfarrerin Wien

 

 

„Denn er hat seinen Engeln befohlen...“ - das steht auf der Glocke der „Arche“, einem evangelischen Gemeindezentrum am Stadtrand von Wien.

„Denn er hat seinen Engeln befohlen“ - oft habe ich als Pfarrerin, die 3 Jahre hier tätig war dieses Psalmwort als Taufspruch gesprochen, von den Eltern so gewünscht. Ausdruck von Schutz, Schutzbedürftigkeit, Sehnsucht nach Segen in dieser eigentlich ganz unkirchlichen Region. Hochhäuser von1971 und 1997 zieren das Grätzel, dazwischen nicht viel Grün, obwohl diese Gegend einst ein großer Garten war, Gärtnereien vor den Toren der Stadt, davon ist nur noch wenig übrig, ein paar Rosenbeete zwischen den Häuserzeilen und dem Verbindungsmittel zur Stadt, der Straßenbahn. „Noch immer keine U-Bahn“, stöhnen die Menschen.

 

Wie ist Kirche möglich an diesem Ort - an diesem Fleck Stadt und eben doch Rand? Mein katholischer Kollege hat eine Antwort gefunden. Das heißt, er hat sie mitgebracht aus Neapel seiner Heimatstadt, sie heißt „Neokathechumenat“. Er sammelt Menschen, die ihr Leben auf Gott ausrichten, mehr als einmal in der Woche - er sammelt sie auf in seiner laufenden Arbeit von Taufen, Firmung und Beerdigung. Manchmal beneide ich ihn, denn sein Pool an Menschen mit denen er so allpfarramtstäglich zu tun hat, ist größer als mein kleiner evangelischer Topf. Aber eigentlich teilen wir, er und ich, das gleiche Leid und stellten uns beide immer wieder die gleiche zermürbende Frage: Wie erreichen wir die Menschen hier, wo man einfach nur noch von der Arbeit heimgeht oder gar nicht erst eine hat? Wie kann man hier authentisch von Gott sprechen?

 

Dietrich Bonhoeffer und in Folge der Theologe Hennig Luther haben von einem „Leben im Fragment“ gesprochen, von der Aufgehobenheit der menschlichen Existenz trotz Halbheiten, die unsere Lebensläufe heute oft bieten. Diesem „Leben im Fragment“ bin ich hier begegnet und ich bin dankbar dafür. Christsein, so habe ich hier gelernt, heißt nicht mehr unbedingt lebenslang. Heißt eher sprunghaft, und vielleicht irgendwann in Kontinuität. Ist eher so zu verstehen, wie in dieser weitverbreiteten Geschichte von den „Spuren im Sand“, wo ein Mensch seinen Weg geht und nicht immer sieht -und doch, wenn es gut geht am Ende, erkennt: „Du hast mich getragen...“

 

Und wenn es gut geht: „Du hast mich getragen...“

Viel aus meiner Arbeit hier blieb in der Anonymität und doch tauchten aus dieser Menschen mit ihren ganz eigenen Konturen auf: eine Frau, die vorm Schaukasten steht und sagt : Ich bleibe hier öfter stehen, ein Vater, der nach einem Taufgespräch sagt: „wir sehen uns bestimmt wieder“ und er spricht aus Erfahrung, jedes Jahr habe ich eines seiner Kinder dieser nicht im klassischen Sinn kirchlich gebundenen Familie getauft oder konfirmiert. Der Familiensegen dieser mittlerweile 7köpfigen Familie wird mich begleiten. Eine Frau die nur Karfreitag kommt und sich dennoch verbunden fühlt, und Kinder im evangelischen Kindergarten, die mir sagen „Du kannst die Gedanken von Gott lesen“.

 

Der Sonntagsgottesdienst hier (allerdings) ist ein Problem, evangelisch wie katholisch. Sonntag morgens um 10 Uhr ist die Welt am Leberberg nicht mehr so - nämlich kirchlich - in Ordnung. Andere Gottesdienst- und Gemeinschaftsformen hingegen funktionieren auch hier oder sogar gerade hier: Abendgottesdienste mit Musik, Seniorentreff, Frauentreff, Kinder. Überhaupt Kinder, die gibt es hier wie Sand am Meer, manchmal denke ich, das ist eine Sünde, sie hier wohnen zu lassen, denn wir sind umgeben von Industrie. Raffinerien, Kläranlagen, Müllverbrennung sind an der Tagesordnung an diesem Stadtrand von Wien. Ja, die Kinder haben es schwer auf diesem Grätzel, Schlüsselkinder, Kindergangs, Jugendliche, die nicht wissen wohin auf der einen und wohlbehütete Kinder und auch noch Jugendliche auf der anderen Seite. Denn der Leberberg, wie diese Region im Volksmund heißt ist zweigeteilt: zur rechten und zur linken meiner Kirche verschiedene Menschen, junge Familien unterschiedlichster Herkunft und Zusammensetzung finanziell wie religiös.

Ich verlasse diese Arbeit jetzt. Ein weinendes und ein lachendes Auge habe ich dabei. Ich weiß: das Lernkapitel Leberberg möchte ich nicht missen. Ich habe Menschen gefunden, die sich als „Gemeinde im Fragment“ begreifen konnten, die einen Versuch gemacht haben mit Kirche in ihrem Leben, ein ungewohnter aber, wie ich glaube, doch lohnender Versuch für manche.

 

Auf der Glocke der Arche, die laut über manche Beschwerden aus dem Grätzel hinübertönt steht dieser Spruch: „denn er hat seine Engel befohlen über dir“ (Ps 91, 11), „dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“.

Auf der Rückseite findet sich eine Lutherrose: das meint für mich Leben im Fragment - angenommen - unsichtbar.