Das Evangelische Wort

Sonntag, 01. 07. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Nimm und lies“

von Pfarrer Mag. Werner Geißelbrecht (Lutherische Stadtkirche Wien)

 

 

Sommer im Süden. Die Sonne glüht vom Himmel. Im Schatten eines Feigenbaumes sucht Herr A. Schutz vor der flirrenden Hitze. Und wie er so vor sich hindöst, ist ihm auf einmal, als höre er eine Stimme: „Nimm und lies, nimm und lies!“ Herr A. rappelt sich auf und sucht sich ein Buch. Er schlägt es auf – und was er liest, verändert sein Leben.

 

Bücher sind machtvolle Gegenüber. Sie können uns in ihren Bann ziehen und fesseln, uns verführen und in Frage stellen, uns entsetzen oder entspannen. Was wir lesen, kann aufregend sein oder witzig, geistreich, gelehrt, heilig, sinnlich.

 

Lesen macht Freude, lesen beflügelt, lesen macht weise. Martin Walser hat einmal gemeint: „Ein Buch ist für mich eine Art Schaufel, mit der ich mich umgrabe.“ Bücher fordern uns heraus, sie berühren, verändern und prägen uns. Sie eröffnen fremde Welten. Sie weiten den Horizont und sind ein Schlüssel zum Verstehen. Durch ihre Verschriftung werden Ideen und Gedanken mobil, können sich verbreiten und weit in die Ferne wirken.

 

Es gibt Bücher, die haben die Welt verändert. Die ganze Geschichte der Reformation wäre nicht denkbar ohne Traktate, Predigten und Flugzettel, die massenweise gedruckt und verteilt, gelesen und diskutiert worden sind – landauf, landab. Von Anfang an war die evangelische Erneuerung ganz wesentlich auch eine Lesebewegung.

 

Vor allem natürlich die Heilige Schrift sollte allen endlich unmittelbar zugänglich werden. Jede und jeder sollte sich selbst hineinlesen können in die Welt der Bibel, ins Evangelium, die frohe Botschaft vom liebenden Gott. Also hat Martin Luther die beiden Testamente aus dem Hebräischen und aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt. Und sich auch konsequent dafür eingesetzt, dass die Menschen lesen lernen, als Kinder schon, die Burschen und – bemerkenswert für seine Zeit – auch die Mädchen.

 

„Nimm und lies!“ – Das ist der evangelische Imperativ im Umgang mit der Bibel. „Nimm und lies!“ Lass deine Bibel nicht im Regal stehen. Sie ist zu schade dafür, nur herumzuliegen, ungelesen. Nimm deine Bibel zur Hand und nimm dir zu Herzen, was sie erzählt: von stürmischen Zeiten, von Not und Glück, von Zweifel und Hoffnung, von Liebe und Leid und himmlischem Trost, von den Menschen und ihren Erfahrungen mit dem Glauben, mit Gott.

 

Lies dich hinein in die Schriften. Lies dich hinein in deine Bibel – und lies für dich heraus, was dir gut tut, was dich inspiriert. Nutz’ diesen Schatz für dein Leben. Lass freundliche wie auch kritische Worte auf dich wirken – heilsam können sie beide sein. Öffne dich und lass dich ein auf das Buch der Bücher, von dem wir glauben, dass der lebendige Gott in ihm wohnt durch sein Wort.

 

„Nimm und lies!“ – So wie damals Herr A., der auf diese Worte hin den schützenden Schatten des Feigenbaums verlässt und sich auf die Suche macht nach einem guten Buch. Diese Geschichte spielt übrigens im Jahr 386. Es ist Augustinus, der in jenem Sommer die Bibel zur Hand nimmt. Noch ist er nicht der große Theologe und Kirchenvater, als der er später in die Geschichte eingehen wird. Noch ist er einfach ein junger Mann auf der Suche nach Sinn. Im Brief des Paulus an die Römer wird er fündig. Und was er liest, verändert sein Leben. Ganz ähnlich wird es später auch Martin Luther gehen.

 

Und warum sollte es uns nicht auch ein wenig so gehen, wenn wir uns auf die Bibel einlassen – auf dieses wunderbar bunte, tiefe, besondere Buch mit all seinen erstaunlichen und provozierenden, mit seinen tröstlichen und ermunternden Geschichten und Gedanken. Wer es probiert, wird dann vielleicht auch mit Augustinus beten können: „Herr, mit Deinem Wort hast Du mein Herz getroffen, und ich liebe Dich.“