Das Evangelische Wort

Sonntag, 05. 08. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Matthias Geist aus Wien

 

 

  

Einfach und Unvollkommen

 

 

Viele kennen es – zumindest vom Hörensagen: Das Gänsehäufel in Wien. Es wird heute 100 Jahre alt. Am 5. August 1907 wurde es eröffnet. 330.000 m² Fläche, ein Riesenareal. 2.200 Bäume, vorwiegend Pappeln, bieten den Besuchern ausreichend Schatten. Und 24.000 Badegäste an einem einzigen Tag gelten als Rekordbesuch dieses Strandbades inmitten der Alten Donau. Heute vor hundert Jahren strömten die Wienerinnen und Wiener also in das neu eröffnete „Strandbad der Commune Wien“ auf der Schotterinsel in Kaisermühlen. Was es uns wohl erzählen könnte aus dieser langen Geschichte? Muss und wird da alles so rekordverdächtig sein? Ich sehe im Gänsehäufel zunächst ein Naherholungsgebiet mit seinen natürlichen Reizen, aber auch mit seinen unvollkommenen Seiten.

 

So wie ich überhaupt in allem, was mir nahe ist, Besonderes und doch nicht nur Perfektes erkennen kann. In mir gibt es Wertvolles, aber rekordverdächtig bin ich nicht. An jenen, die ich kenne und schätze, lerne ich viel. Aber ich lerne eben auch ihre Grenzen kennen. Und meine Interessen, meine Eigenschaften, meine Begabungen bereichern mich zwar, aber sie reichen wahrlich nicht zur Perfektion.

 

Und die Jünger kamen nach Kapernaum. Und Jesus daheim war, fragte er sie: Was habt ihr auf dem Weg verhandelt? Sie aber schwiegen; denn sie hatten auf dem Weg miteinander verhandelt, wer der Größte sei.

 

Im Geheimen spielt sich immer Rivalität ab, ja auch bei mir. Bin ich perfekt, bin ich ideal, bin ich attraktiv für andere? Oder bin ich nirgends der Größte oder der Beste? Und woher beziehe ich dann meinen Selbstwert? – Auch in dem, was wir einander erzählen, ist das Besondere im Vordergrund, das absolut Perfekte besticht. Der schönste Urlaub mit dem außergewöhnlichsten Ziel, mit der besonderen Mischung aus Erholung, Neuheit und Spannung, ist ja Thema vieler Sommergespräche. In den Vorankündigungen und Reiseberichten hört, sieht und erlebt man geheime Rivalität. Und ich weiß nicht so recht, ob ich mich entschuldigen soll oder erst recht prahlen soll, dass ich mit meiner Familie eben nur in Österreich bleibe. Und kleinlaut gebe ich zu: Weil es da am schönsten ist? Oder nur am erholsamsten? Oder nicht einmal das? Ich habe von anderen gelernt, dass es sich lohnt, das Einfache zu schätzen und dem Perfekten gar nicht so viel Augenmerk zu schenken. Wer weiß? Gibt es das Perfekte überhaupt? Und wenn ja, ist es nicht gerade woanders, als wir es vermuten?

 

Und Jesus setzte sich und rief die Zwölf und sprach zu ihnen: Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener.

 

Diese Worte befreien mich von jedem Perfektionismus. (Die Umkehrung, die Neubesinnung auf das, was zählt. Ich bin in der Rangfolge woanders, als ich es vermute. Die Sehnsucht nach Anerkennung verblendet. Der Drang zur Perfektion verfolgt und lässt einen in den Gedanken kaum mehr los. Aber was wird uns hier mitgegeben?) Lass nach, hör auf mit deinem Streben nach der Vollkommenheit, sie ist ja doch woanders zu finden. Nämlich dort, wo du diesen Blickwinkel gar nicht mehr hast und haben musst. Wo du nicht der Beste und Schönste sein musst, wo weder die Idealmaße noch der Intelligenzquotient zählt, sondern das befreite und offene Herz. Du bist so wie du bist einzigartig! – In aller Unvollkommenheit vollkommener als jede Perfektion!

 

Das Gänsehäufel ist für mich Sinnbild. Nicht nur für unsere Urlaubskultur, sondern auch für unser Dasein als Menschen. Das Gänsehäufel bietet nicht so glasklares Badewasser wie mancher Alpensee. Nicht immer ist es so ruhig wie auf den Bergen. Die Sandkisten für Kinder ersetzen keinen Sandstrand am Mittelmeer und so spannend wie ein Abenteuerurlaub ist die tägliche Fahrt mit dem Bäderbus auch nicht. Aber die 100 Jahre des Gänsehäufels erzählen uns schon durch seinen Namen und seine Geschichte vom Einfachen und Unvollkommenen. Die schnatternden Gänse am „Haufen“, an der „angeschwemmten Insel“, gaben im Volksmund der Insel ihren ursprünglichen Namen „Gänsehaufen“. Lange war es für konservative Kreise verpönt und umstritten, in dieses Bad zu gehen. Aber schon am Ende des Ersten Weltkrieges war es eine Art gemeinsamer Zufluchtsort. Und später wurde es zum Ort einer bewussten Körperkultur und zum Symbol einer neuen Lebensfreude und des Überlebenswillens Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne Schnickschnack. Ohne Perfektion. Aber einfach gelebte Entspannung in der Unvollkommenheit!