Das Evangelische Wort

Sonntag, 14. 10. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Ulrich H.J. Körtner

 

 

„Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt“, schreibt Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“. Bewirkt die Abkehr von Gott nicht tatsächlich einen ethischen Relativisimus, der das sittlich Gute mit dem Nützlichen verwechselt und das Lebensrecht des Schwächeren missachtet? Führt nicht die Leugnung der Existenz Gottes zur Kultur des Todes, vor der insbesondere Papst Johannes Paul II. unermüdlich gewarnt hat?

 

Ganz im Gegenteil, behauptet der britische Biologe und bekennende Atheist Richard Dawkins! Gerade wenn es Gott gibt, ist alles erlaubt, lautet seine These. Für ihn ist Gott eine Wahnvorstellung und Quelle allen Übels auf der Welt. Gott steht für religiösen Fanatismus, für Intoleranz, Unterdrückung und Gewalt. Religion ist für Dawkins das genaue Gegenteil von Aufklärung und Moral. Fanatismus sei nicht etwa bloß eine Perversion von Religion, sondern deren Normalfall.

 

Religiöse Fanatiker aller Zeiten bieten scheinbar genügend Belege für seine grobschlächtigen Thesen. Der Hinweis auf die Kreuzzüge des Mittelalters, auf Hexenverbrennungen und die Verfolgung von Häretikern gehört ebenso zum Arsenal der Religionskritik wie die Unterdrückung von Frauen im Islam oder die Selbstmordattentate islamistischer Terroristen. Haben nicht die Attentäter des 11. September 2001 geschrieben: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod?“ Gilt nicht dasselbe in gewisser Weise auch von den frühchristlichen Märtyrern? Propagiert nicht letztlich jede Religion in Wahrheit eine Kultur des Todes?

 

Natürlich lässt sich leicht die Gegenrechnung aufmachen. Man denke an die segensreiche Arbeit von Diakonie und Caritas oder an Persönlichkeiten wie Albert Schweitzer, Martin Luther King, Mahatma Gandhi oder Mutter Teresa. Letztere hat übrigens mit tiefen Glaubenszweifeln gerungen, die doch wohl das Gegenteil von religiösem Fanatismus sind. Dawkins’ wüste Religionskritik und sein militanter Atheismus machen sich die Sache zu einfach. Allerdings bleibt alle Religion zutiefst zweideutig, weil wir Menschen stets versucht sind, Gott für unsere menschlichen Bedürfnisse zu instrumentalisieren.

 

Ist nun die Religion Hüterin der Moral, oder ist die Moral Hüterin der Religion? Die Frage stellt uns vor eine falsche Alternative. Denn das Phänomen der Moral ist nicht minder zweideutig wie die Religion. Moral steht nicht einfach auf der Gegenseite zum Bösen, sondern kann selbst böse Folgen haben. Sie verführt Menschen zur Selbstgerechtigkeit. Menschen zerbrechen an ihrer Unbarmherzigkeit und Unerbittlichkeit.

 

Der Soziologe Niklas Luhmann hat erklärt, es sei die Aufgabe der Ethik, vor zuviel Moral zu warnen. Recht verstanden enthält auch das Neue Testament eine moralkritische Botschaft, wie die Geschichte von der Ehebrecherin im Johannesevangelium zeigt. Als man sie zum Tode verurteilen will, sagt Jesus zu den Umstehenden: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“

 

In gewisser Hinsicht hat Dawkins durchaus recht: „Wenn Gott ist, ist alles erlaubt“. Christus befreit uns nicht nur von unbarmherziger Moral, sondern auch von einer auf Moral oder kultische Vorschriften reduzierten Religion. „Alles ist erlaubt“, schreibt der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief. Für ihn haben zum Beispiel religiöse Speisevorschriften und Fastenregeln, die im modernen Gesundheits- und Körperkult fröhliche Urständ feiern, mit dem Kommen Christi ihre Gültigkeit verloren.

 

Das Christentum ist die Religion der Freiheit. Die Freiheit des Glaubens ist allerdings das Gegenteil egoistischer Bindungslosigkeit. „Alles ist erlaubt, aber nicht alles nützt“, lautet das vollständige Pauluszitat. Beim Gebrauch der eigenen Freiheit sollen wir uns fragen, was dem Mitmenschen, dem Guten und dem Frieden dient. So reimt sich Freiheit mit Liebe zusammen. Liebe aber überschreitet die Grenzen jeder Moral.