Das Evangelische Wort

Sonntag, 28. 10. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfr. Rainer Gottas (Johanneskirche, Klagenfurt)

 

 

Vor dem Haus eines alten Mannes ist ein hoher Berg.

Der Berg nimmt ihm das Licht, das er sich zum Leben wünscht.

Was tut er? Er fängt an, nimmt Schaufel und Schubkarre und beginnt, den Berg abzutragen. Die Nachbarn fangen an zu lächeln und zu spotten: „Jetzt ist er ganz verrückt geworden, der Alte!" Er sagt: „Wartet nur, ich werde das schon schaffen, Schaufel für Schaufel, Karre für Karre. Und wenn ich es nicht schaffe, dann werden meine Kinder weitermachen; wenn die es nicht schaffen, deren Kinder - irgendwann ist der Berg abgetragen.“

Die Legende mündet in den Satz: „Als Gott im Himmel dieses Vertrauen sah, da schickte er zwei Engel, die den Berg auf ihren Flügeln davontrugen.“

 

Der fängt einfach an! Er trägt eine Sehnsucht nach Licht in sich - und fängt an, Schaufel für Schaufel. Viele Menschen wissen nichts mit sich selbst anzufangen: mit ihrer Zeit, mit ihren Fähigkeiten und Begabungen - und darum fangen sie nichts an. Doch wenn du nichts anfängst, dann macht es dich müde. Nicht anfangen lässt den Berg immer höher werden…

 

Gleichzeitig fängt immer etwas an: der Tag fängt an, die Woche fängt an, das Jahr fängt an, die Schule fängt an, eine Beziehung fängt an, die Lebensmitte fängt an, das Altwerden fängt an - es fängt immer etwas an! Aber ich muss es zu meinem Anfangen machen, dem Anfang mein Gesicht geben. Tue ich das nicht, lebe ich nicht, sondern werde gelebt. Schade!

 

Von Exupéry stammt das Wort: „Wenn du ein Schiff bauen willst, suche nicht Holz und Handwerker, sondern suche Männer, die die Sehnsucht nach dem weiten Meer im Herzen tragen." Die Sehnsucht ist der Motor, der mich anfangen lässt. Die Sehnsucht nach Leben ließ den „verlorenen Sohn“ ins Leben aufbrechen. Die Sehnsucht ließ Maria von Magdala am Ostermorgen zum Grab laufen. Sehnsucht gibt auch die Kraft, das zu tun, ohne das du nicht anfangen kannst: loslassen.

Ich komme nicht an die Arbeit, wenn ich das Frühstück und die Zeitung nicht loslassen kann. Ich komme nicht zur Freizeit, wenn ich die Arbeit nicht loslassen kann. Ich komme nicht in die Zukunft, wenn ich die Vergangenheit nicht loslassen kann.

 

Wenn wir „Anfänger“ sein und bleiben wollen, entscheidet sich das daran, ob es uns gelingt, Menschen der Sehnsucht zu sein. Das ist gar nicht so einfach. Ist doch die Sehnsucht, die aus der Mitte Gottes stammt, dem Wesen nach maßlos: Nicht „ein bisschen Frieden …“, sondern überall, jederzeit, für alle ...

 

Diese Maßlosigkeit der Sehnsucht ist für viele schwer auszuhalten, weil ihr Leben nicht all ihre Sehnsucht beantworten kann. So lösen sie die große Sehnsucht in viele kleine Portionen auf, in „Sehn-Süchte“, von denen sie sich Zufriedenheit erhoffen – ich erlebe das oft bei meinen Kindern: „Papa, ich will noch ein Eis … Kann ich auch noch ein Mickey-Mouse-Heft haben? …“ Das fördert aber nicht die Lebensenergie, sondern schürt die Gier nach immer mehr. Etwas loszulassen schränkt das Leben nicht ein, sondern macht erst den Weg frei, neu anzufangen.

 

Als Mensch der Sehnsucht gebe ich mich nicht der Illusion hin, ich selbst oder ein Mensch oder irgendetwas in der Welt könnte meine Sehnsucht ein für alle mal befriedigen. Ich lebe darum mit der offenen Bereitschaft, dass es da etwas in meinem Leben gibt, das unruhig ist - und solange ich lebe, unruhig bleiben wird. Aus dieser Unruhe setze ich meine Schritte und meine Anfänge. Wie tue ich das am besten? Fang mit dem Nächstliegenden an! „Tu, was dir vor die Hände kommt!“, heißt es im 1. Samuelbuch. „Denn Gott ist mit dir.“ (V. 10,7)

 

Und manchmal, wenn mich im Klagenfurter Herbstnebel die Sehnsucht nach Licht und Weite packt, fahre ich auf den Magdalensberg und genieße den Blick auf das weiße Meer. Nicht jeder Berg muss abgetragen werden. Auf manche kann man auch einfach hinauffahren…