Das Evangelische Wort

Sonntag, 11. 11. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

Von der Langsamkeit

von Pfarrer Andreas Fasching (Wien)

 

 

"Wir wissen zwar nicht, wo wir hin wollen. Dafür sind wir aber umso schneller dort." Dieser Satz von Gerhard Bronner ist bis heute aktuell.  Hohes Tempo - schon die Sekunden, die der Computer braucht, um einen Befehl auszuführen, dauern mir manchmal unendlich lange. Wer von uns hätte nicht das Gefühl, alles drehe sich schneller und schneller - und immer mehr um sich selbst? Tempo und Mobilität sind zu einem Wert an sich geworden.

 

Im Jakobusbrief lese ich den Satz: Seid geduldig und stärkt eure Herzen, denn das Kommen Gottes ist nahe! (Jak 5,8) Welcher Kontrast zum tagtäglichen High Speed. Die hier beschriebene Geduld ist aktiv und dynamisch. Ihr Warten ist ein gespanntes Warten. Es dispensiert nicht davon, zu ändern, was in meinen Kräften ist. Weil sie dem Neuen, dem Anderen entgegenharrt, das von Gott her kommen wird, findet sie sich nicht ab mit dem, was ist. Weil sie der großen Verwandlung entgegensieht, inspiriert und ermutigt sie Menschen, sich selber und ihre Verhältnisse zu ändern. Das Ziel, das sie vor sich sieht, beeinflusst und prägt auch schon den Weg dorthin; und ebenso die Menschen, die diesem Ziel entgegenharren und entgegengehen. Hier finde ich wieder, was Eberhard Jüngel den "langen Atem der Leidenschaft" nennt.

 

Mit dem langen Atem der Leidenschaft leben, heißt deshalb: Die Beschleunigung der Lebensverhältnisse nicht noch weiter voranzutreiben, sondern für ihre Entschleunigung zu sorgen. Wenn ich langsamer werde, entfalte ich ein Menschsein, das sich nicht durch Schnelligkeit und Leistung definiert. Indem ich die Langsamkeit fördere, schaffe ich meiner Sehnsucht Raum: sein zu dürfen wie ich bin, meinen eigenen Rhythmus zu finden, Erfahrungen nachklingen zu lassen.

 

Vieles davon ist mir im Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" begegnet. Sten Nadolny erzählt die Geschichte des John Franklin, der von Klein auf davon träumt, zur See zu fahren. Doch er scheint dafür denkbar ungeeignet: Er ist langsam im Sprechen und Denken, langsam in seinen Reaktionen. Alles ist ihm zu schnell, er misst die Zeit nach eigenen Maßstäben. Zunächst erkennt nur sein Lehrer, dass Johns eigenartige Behinderung auch Vorzüge hat: was er einmal erfasst hat, behält er; und das Einzigartige, das Detail begreift er besser als andere. John geht zur Marine, erlebt den Krieg und das Sterben. Beides trifft ihn umso furchtbarer, als er innerhalb des von ihm kaum begreifbaren, chaotisch-schnellen Geschehens einzelne Vorgänge wie in Zeitlupe ablaufen sieht. Schließlich wird er ein hervorragender Polarforscher und Kapitän, weil er behutsam hört, langsam urteilt und spricht. So hat er beispielsweise die Geduld, sich dem unmerklichen, aber wirkungsvollen Treiben des Polareises anzupassen und dadurch Menschenleben zu retten.

 

Sten Nadolny beschreibt in seinem Bestseller die Langsamkeit als eine Kunst, dem Rhythmus des Lebens Sinn zu verleihen. So lässt er John im Schiffsbuch niederschreiben: "Ich bin mir selbst ein Freund. Ich nehme ernst, was ich denke und empfinde. Die Zeit, die ich dafür brauche, ist nie vertan."

 

Wer sich wie die Romanfigur des John Franklin in der Kunst der Langsamkeit übt, verbindet sich mit der Schöpfung. Jetzt im Spätherbst nimmt sie ihre ganze Kraft zurück. Darin liegt höchste Aktivität. Ich pflege einen behutsamen Umgang mit mir selbst und allen Dingen. Ich achte auf meine alltäglichen Bewegungen: mein Stehen, mein Gehen, mein Sitzen und auf meinen Atem. Die Zeit, die ich dafür brauche, ist nie vertan.

 

 

Buchtipp:

Sten Nadolny „Die Entdeckung der Langsamkeit“, Verlag Piper