Das Evangelische Wort

Sonntag, 18. 11. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Mich wundert, dass Sie so fröhlich sind ...“

von Oberkirchenrätin Dr. Hannelore Reiner (Wien)

 

 

Gestern ist sie 60 Jahre alt geworden. Auf ein Leben voll Arbeit und Mühe, aber auch beschenkt mit viel Glück und Liebe kann sie schon zurückblicken. Ihr Bild findet sich im Lokalteil der Zeitung.

 

Der 60er ist für viele Menschen ein besonderer Geburtstag. Es geht hinein in jenes Jahrzehnt, wo die so genannte 3. Lebensphase, die Zeit des Ruhestandes beginnt. Da steigen unwillkürlich Fragen auf: Wie wird es weitergehen ohne den täglichen Arbeitsrhythmus? Kann ich auch noch genießen, was ich in all den Jahren aufgebaut habe?

 

Für die Jubilarin, von der ich heute Morgen erzähle, sind diese Fragen nicht mehr entscheidend. Sie ist voller Dank, dass Sie diesen Geburtstag feiern kann. „Habe nie geglaubt, dass ich den 60er erlebe“, gestand sie im Interview.

 

Das ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, unter welcher Krankheit sie leidet. Amyotrophe Lateralsklerose – kurz ALS – eine seltene Krankheit, für die es derzeit so gut wie keine Heilungschancen gibt. Sukzessive sterben alle Muskeln im Körper ab.

 

Über Nacht ist die Krankheit gekommen. Eines Morgens fühlten sich die Hände wie taub an. Heute – nach knapp drei Jahren – kann sie nur noch ihren Oberkörper und ihren Kopf bewegen. Dabei ist ihr Denken in keiner Weise beeinträchtigt. Die Kommunikation mit ihrer Familie und den Besuchern gelingt mittels ihrer Nase. Sie tippt mit ihr auf die Buchstaben, die am Tisch bereitliegen. Das ist mühsam, aber es gelingt – es kommen ganze Sätze ...

 

Sie zeigt mit ihrem Gesicht wie es ihr geht und was sie fühlt, ganz offen. Sie weint, wenn es ihr danach zumute ist, aber sie kann auch wieder lachen, z.B. über ihre Nase, die sie früher einmal operieren lassen wollte, weil sie ihr zu groß war. Jetzt passt sie ganz genau als Sprachersatz.

 

„Mich wundert, dass Sie so fröhlich sind“, staunt ein Besucher über sie. Ich kann dieses Verwundern gut nachvollziehen. Es ist kaum zu begreifen, dass Menschen in solchen Situationen nicht verzweifeln oder einen Ausweg im Freitod suchen, sondern ganz bewusst jeden Tag als ein Geschenk in Empfang nehmen und mit Lachen und Weinen zeigen, dass sie leben und leben wollen, bis ein anderer den Schlusspunkt setzt.

 

Ich kenne die Jubilarin nur indirekt und durch den Zeitungsartikel anlässlich ihres runden Geburtstages. Ich weiß nicht, woher sie ihre Kraft nimmt, um jeden Tag neu ihr Leben zu bejahen und sich freuen zu können an dem wenigen, was ihr geblieben ist: eine sie liebevoll pflegende Familie, die Wärme der Sonne, die Novembernebel zerreißen kann, die Hoffnung, dass sie – wann immer die Zeit für sie gekommen ist – in Frieden sterben wird.

 

„Mich wundert, dass sie so fröhlich sind“. Vielleicht hat sie die Lebenskunst, die zugleich eine Kunst des Sterbens ist, bei den Psalmbetern gelernt. Diese kennen auch Lachen und Weinen, Trauern und Hoffen und die Dankbarkeit.

 

So sei der nun folgende 126. Psalm dem gestrigen Geburtstagskind in besonderer Weise gewidmet.

 

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erhören wird, so werden wir sein wie die Träumenden.

Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein ...

Denn die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.

Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“