Das Evangelische Wort

Sonntag, 25. 11. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrerin Ingrid Bachler (Wels, OÖ)

 

 

„In vier Wochen ist Weihnachten“, sagte meine Freundin Christiane einigermaßen erschrocken mit Blick auf die bevorstehenden Geschenkeinkaufstouren im weihnachtlich geschmückten Ambiente. Wir sind wieder einmal angekommen am Ende eines Jahres, das sich wie immer schon Wochen vorher im Lichterglanz der Kerzen und Hochglanzkugeln widerspiegelt. Ja, wir sind unserer Zeit voraus. Rechtzeitig planen heißt die Devise. Wir buchen im Jänner den Sommerurlaub und im Herbst die Winterferien. Die Wochenenden sind weit voraus verplant und für spontane Zwischenspiele bleibt oft keine Zeit. Wir leben in der Zukunft.

 

Ich merke es an mir selber, wenn ich Laufen gehe: Am Anfang möchte ich die Strecke rasch hinter mich bringen. Die noch anstehenden Termine des Tages und der restlichen Woche fallen mir ein, dazu einige Gespräche, die schwierig waren. Ich gehe sie in Gedanken durch und beschleunige automatisch mein Lauftempo. Erst als ich außer Atem komme, reduziere ich die Geschwindigkeit - schließlich möchte ich das Laufen genießen und mich nicht hetzen. Bewusst versuche ich nun die Umgebung wahrzunehmen: die abgeernteten Felder mit den schönen grünen und braunen Farbschattierungen, die Obstbäume, an denen die letzten, verbliebenen Blätter hängen, die der Herbstwind noch übrig gelassen hat. Den Himmel, der sich in immer neuer Gestalt zeigt, mit den phantasievollsten Wolkenformationen, die mich an Bilder erinnern, der Blick auf den Traunstein, der wieder einmal klar und gut sichtbar herausragt am Horizont und schließlich der Gegenwind, der mir Widerstand abverlangt und mich fordert.

 

Langsam steigt Ruhe in mir auf und eine ganz grundsätzliche Freude am Leben. Ich habe meinen Rhythmus gefunden und kann mein Dasein jetzt in diesem Moment genießen. Die Zeit ist auf einmal kein Problem mehr, im Gegenteil, es kommt mir vor, als hätte sie sich auf wunderbare Weise vermehrt. Ich lebe nicht mehr in der Zukunft, sondern im Jetzt.

 

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Psalm 90,12

 

Beim Thema Zeit bin ich wie andere auch eine Betroffene. Oft wird mir die Zeit zu knapp und selten reicht sie für alles aus, was ich mir vorgenommen habe. Das ist eben, wie es der Theologe Paul Tillich genannt hat: der „Opfercharakter des Lebens“, dass wir stets eines für ein anderes opfern müssen und nicht alles und schon gar nicht gleichzeitig haben können. An der Zeit wird mir meine eigene Begrenztheit schmerzlich bewusst. Wer heute einen neuen Umgang mit der Zeit sucht geht vielleicht in Zeit-Management-Kurse oder in Meditationszentren, aber nur selten in christliche Kirchen, obwohl gerade die „Räume der Zeitlosigkeit“ bereitstellen können.

 

Für den christlichen Glauben ist Zeit zuallererst ein Geschenk. Mit dem Leben schenkt mir Gott Zeit: meine Zeit zum Empfangen und Geben zur Entfaltung meiner Fähigkeiten, zur Gestaltung meines Lebens und der Welt. So wie ich, ist auch meine Zeit einmalig und befristet. Dieser Gedanke lässt manche Menschen ängstlich werden. Aus Angst vor dem Tod wird das Leben für sie zur letzten Gelegenheit, in der alles erlebt werden muss oder Sinn durch Leistung gewonnen werden soll. Er gilt die Zeit zu nutzen und nichts zu versäumen.

 

Wenn Philosophen wie Peter Heintel heute ein „Innehalten“ fordern und Gelassenheit empfehlen, so entspricht das auch dem christlichen Glauben. Denn durch das, was Gott in Jesus Christus an uns getan hat, leben wir schon als Erlöste. Durch die Rechtfertigung allein aus Gnade bin ich ja von allen Versuchen befreit, meinen Lebenssinn durch Leistung erarbeiten zu müssen und darf daher leben – gelassen und frei. Da Gott mein ganzes Leben und die ganze Schöpfung vollenden wird, kann auch manches Fragment bleiben, das ich getrost in Gottes Hand legen darf. Und weil Gottes Ewigkeit mich umgibt, nehme ich in Stunden der Erfüllung - zum Beispiel beim Laufen in der Natur oder beim Hören auf den Posaunenchor meiner Pfarrgemeinde, die Zeichen dieser Ewigkeit wahr. Ich warte gelassen aber nicht untätig auf die Vollendung des Reiches Gottes. Ja, in vier Wochen ist Weihnachten, aber heute ist in der Evangelischen Kirche der Ewigkeitssonntag.