Das Evangelische Wort

Sonntag, 03. 08. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Dr. Christoph Weist

 

 

 

„Lassen Sie Ihren Pass stecken und zeigen Sie ihn nur bei ausdrücklicher Aufforderung. Grenzen darf es nicht geben!“ Das rief mir ein Bekannter zu, als wir uns – noch vor der Schengen-Zeit - im Auto einer innereuropäischen Grenze näherten. Ich hatte gerade nach dem Dokument gekramt, um es brav vorzuweisen. Damals war ich ziemlich verdutzt, heute weiß ich, was er meinte.

 

Grenzen darf es nicht geben. Die Debatte um Europa ist wieder aufgeflammt. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa leistet dazu einen interessanten Beitrag: Sie versteht die Einheit der Kirchen in der Ökumene als „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Und dies, davon ist etwa der lutherische Bischof Michael Bünker überzeugt, kann auch das Motto für das Miteinander der Kulturen, Nationen und Sprachen Europas sein.

 

Denn ohne ein so oder so vereintes Europa wird es keinesfalls mehr gehen. Die Entwicklung des Kontinents mit seinen unablässigen Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen den Staaten, der Not und dem Blutvergießen bis in die jüngste Zeit zeigt: Das heutige Projekt der Europäischen Union, so unvollkommen es in vielen Punkten ist, ist ein echtes Friedensprojekt. Der verhängnisvolle Hass der Nationen untereinander ist abgeflaut, auch wenn noch immer Rivalitäten und dumme Egoismen geblieben sind. Die nicht zu pflegen, sondern zu überwinden, dafür hat der Europagedanke einen unschätzbaren Wert. Ein einzelnes Landes „zuerst“, das ist nicht mehr möglich.

 

Und das gilt nicht nur innerhalb Europas, es gilt weltweit. Die großen globalen Wanderungswellen werden vor Europa nicht Halt machen. Sie werden nicht fernzuhalten sein mit noch so raffinierten Systemen der Abwehr und Einbunkerung. Menschen aus aller Welt werden sich in Europa begegnen und Europa verändern. Sie werden ihre Traditionen mit denen der europäischen Menschen mischen, die, die etwas besitzen, werden mit denen, die nichts besitzen, teilen müssen, und das tägliche Leben wird sich neu gestalten. Das Ergebnis wird nicht etwa ein „fürchterlicher Mischmasch“ sein, sondern ganz neue Modelle werden das Miteinander der Menschen bestimmen. Ein buntes, fruchtbares Miteinander, das sich das traditionelle Europa heute nicht vorstellen kann - und leider auch nicht will.

 

Und was ist mit den viel beschworenen „gemeinsamen europäischen Werten“, zumal den christlichen? Die werden sich als die Legende erweisen, die sie immer schon waren. Oder behauptet jemand im Ernst, die Werte, die im Alltag Siziliens gelten, seien die gleichen wie die im Norden Finnlands? Und kaum ein Wert wird in Europa – ganz offiziell und leider auch von sogenannten „christlichen“ Politikern – so mit Füßen getreten wie der zutiefst christliche Wert der Solidarität mit den Schwachen und der Sorge für den „Fremdling“. Obwohl das Christentum an der Herausbildung der Menschenrechte einen beträchtlichen Anteil hat.

 

Aber keine Sorge: Die christliche Botschaft selbst wird nicht untergehen, sie wird jedoch sein, was sie von Anfang an war: eine Stimme unter anderen. Aber sie wird eine starke Stimme sein, die man hören wird. „Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Liebe.“ (2. Tim 4,2) Dazu fordert das Neue Testament nicht nur die Kirchen, sondern alle Christinnen und Christen auf. Und diese Stimme wird dazu beitragen, dass das große Friedensprojekt, das Europäische Union heißt, zum Ziel kommt.

 

Man muss kein Prophet sein, um all das vorauszusehen. Man muss nur aus der Bibel gelernt haben, was die Macht der Geschichte bedeutet, einer Geschichte, die in Gottes Hand steht. Dann erkennt man, dass Grenzen im Kopf und quer durch die Landschaft nicht von Gott, sondern von Menschen errichtet sind. Und dass sie deshalb ganz schnell auch wieder fallen können.