Das Evangelische Wort

Sonntag, 20. 04. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Frank Lissy-Honegger (Rust, Burgenland)

 

 

Die Füchse haben Gruben. Die Vögel unter dem Himmel haben Nester. Aber des Menschen Sohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.  Lukas 9, 58

 

Ich schau zum Fenster hinaus, und ich sehe ein Storchennest. Seit drei Wochen ist es wieder belegt, ein Storchenpärchen ist eifrig bemüht, Materialien zur besseren Ausstattung herbeizubringen und einzuflechten.

 

Die nächsten Monate werde ich die Störche beim Brüten, bei der Aufzucht der Jungen, deren ersten Flugversuchen, schließlich bei den Reisevorbereitungen beobachten können. Dann werden sie wieder weg sein. Die Störche verbringen nur einen Teil ihrer Zeit in Rust. Sie sind Zugvögel, fliegende Nomaden. Der Flug der Störche führt weit, über den Balkan, die Türkei, den Nahen Osten, bis zu 400 km am Tag.

 

Hunderttausende Störche fliegen über Israel, über die Grenze zwischen dem Ackerland und der judäischen Wüste. Dort spielt eine Geschichte, die sie sicher kennen:

 

Abel war ein Hirte, Kain ein Ackerbauer. Eines Tages brachten sie Opfer dar und Gott sah freundlich auf Abel und seine Gabe, an Kain und seinem Opfer aber sah er vorbei. Da wurde Kain zornig und senkte finster seinen Blick. Und er sprach zu seinem Bruder Abel: „Lass uns aufs Feld gehen!“ Und als sie miteinander auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und schlug ihn tot.

 

Kain, der Ackerbauer, und Abel, der schafzüchtende Nomade, traten einander gegenüber. Nicht der Böse und der Gute, sondern der sesshafte und der wandernde Mensch. Und Kain schlug seinen Bruder Abel tot. Im Laufe der Jahrtausende lernten die beiden miteinander zu leben und entwickelten das uralte Gesetz des Weidewechsels. Im Herbst, wenn die Randgebiete der Wüste blühen, ziehen die Nomaden in die Wüste, und die Bauern säen ihr Getreide. Im Frühjahr, wenn Hitze und Trockenheit beginnen, ernten die Bauern ihre Felder ab, und die Hirten kommen ins Ackerland und die Herden düngen die Felder.

 

Aber der Flug der Störche führt weiter, über die Halbinsel Sinai nach Ägypten bis tief in den Süden, ja für manche von ihnen bis Südafrika. Zu den Winterquartieren. Nicht, weil es ihnen in Europa zu kalt wäre, sondern weil die Nahrungssituation zu unsicher ist.

 

Jesus sagt: „Die Vögel haben Nester. Ich selbst habe keinen Platz, um mich niederzulegen“. Jesus hat – in der Zeit seines Auftretens – ein Wanderleben geführt. Sein Haus war das Haus von Freunden oder Anhängern, die ihn aufgenommen haben. Wenn er ein Boot gebraucht hat, hat er es sich geborgt; wenn er Menschen satt gemacht hat, hat er sich das Brot reichen lassen müssen; als er das Abendmahl eingesetzt hat, hat er es in einem fremden Saal getan, und noch im Tod hat er kein eigenes Grab gehabt. Immer war er darauf angewiesen, dass einer ihm Haus und Dach angeboten hat, Tisch und Bank, das Brot und den Wein, das Wasser für die Füße und das Lager für die Nacht. Und selbst genannt hat er sich – nicht einen Herrn, nicht einen Bauern, nicht einen König – einen Hirten. So lebt Gott unter uns.

 

Ich schau zum Fenster hinaus, und ich sehe ein Storchennest. Die Störche arbeiten am Nest, aber sie verbringen nur einen Teil ihrer Zeit in Rust. Sie führen mich hinaus, auf einen langen Weg, bis nach Südafrika. Meine Gemeinde wird in einem Monat, am 22. Mai,  das burgenländische Gustav Adolf Fest veranstalten. Motto: Der Flug der Störche. Wir werden ganz bei uns sein können, bei dem, was uns ausmacht; und wir werden weit hinausschauen, auf der Route der Störche, bis Israel, bis Südafrika.

 

Wie die Störche haben wir Menschen immer einen Platz auf Zeit. Als Kind in den Armen einer Mutter, eines Vaters, später in einem Kreis von Freunden, mit einem Lebenspartner; einer Lebenspartnerin, die einen liebt, in einem Beruf, in einer Aufgabe, in einer Familie. Wir sollen frei werden von der Angst, die hinter der verschlossenen Tür wohnt. Wir können sie öffnen, weil wir wissen, wie groß unser Zuhause ist.