Das Evangelische Wort

Sonntag, 27. 04. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Beten und Tun des Gerechten“

von Oberkirchenrätin Dr. Hannelore Reiner (Wien)

 

 

In den vergangenen Wochen hat eine Meldung der Weltbank aufhorchen lassen: Wenn das UN-Ernährungsprogramm bis zum 1. Mai nicht entsprechend aufgefüllt wird durch die reichen Staaten der Welt, droht für 100 Millionen Menschen extreme Hungersnot. Die Gründe dafür liegen teilweise schon auf dem Tisch. Getreide ist nach wie vor ein Spekulationsobjekt am Weltmarkt. Angesichts des globalen Bevölkerungszuwachses kann mit dem Hunger der Menschen noch immer ein todsicheres Geschäft gemacht werden.

 

Selbst bei uns in Österreich sind in den letzten Monaten die Preise der Grundnahrungsmittel in die Höhe geschnellt. Gerade Familien mit mehreren Kindern bzw. Alleinerzieherinnen und –erzieher sind davon in erster Linie betroffen.

 

Ich maße mir nicht an, der Welternährungsorganisation oder auch nur den österreichischen Wirtschaftsfachleuten Ratschläge zu erteilen. Ich bin aber sehr wohl davon überzeugt, dass Christinnen und Christen nicht einfach über solche Meldungen hinweggehen können und dürfen. Der heutige Sonntag heißt in der evangelischen Tradition „Rogate“ – „Betet“. Beten, das mag fromm und sehr weit weg klingen angesichts der drohenden Hungersnot in den armen Ländern unserer Erde. Aber bezeichnenderweise bildet genau die Mitte des Vaterunser, also jenes Mustergebets, das Jesus seinen Jüngern und Jüngerinnen geschenkt hat, ausgerechnet jene Bitte um das tägliche Brot: Unser tägliches Brot gib uns heute.

 

Zwei kleine Worte dieser kurzen Bitte werden kaum beachtet. Einmal geht es um „unser“ Brot, nicht allein um das meinige! Alle Menschengeschwister sind stets mit eingeschlossen, wenn wir um „unser Brot“ bitten. Es ist also nicht möglich, ernsthaft zu beten: Unser Brot gib uns heute und nichts dazu zu tun, dass überall auf der Welt Menschen wenigstens das Nötigste zum Leben haben. Die Evangelischen Kirchen in Österreich versuchen ihren kleinen Teil dazu beizutragen. Heute wird in den meisten evangelischen Gottesdiensten für Projekte gegen den Hunger in den ärmsten Ländern der Welt gesammelt; für vom Krieg betroffene Familien in Somalia und für das Überleben von Kindern und alten und kranken Menschen in Kenia. Ebenso wird, um auf Haiti die Ernährungslage nachhaltig zu verbessern, der Eigenanbau von Gemüse in den Hausgärten gefördert. So wird das „uns“ in der vierten Bitte des Vaterunser konkret umgesetzt.

 

Das andere unauffällige Wort in dieser Bitte ist das Attribut „täglich“. Damit wird allen Spekulationen ein Riegel vorgeschoben. Getreide zu horten, um den Preis anzukurbeln, wenn zur gleichen Zeit Menschen an Hunger leiden, ist ein klarer Verstoß gegen die vierte Bitte des Vaterunser.

 

Wird das Vaterunser einmal von dieser Seite her betrachtet, so sind Beten und wirtschaftliches Handeln auf einmal gar nicht mehr so weit voneinander entfernt.

 

Dietrich Bonhoeffer, der bekannte deutsche Theologe und Widerstandskämpfer hat zu seiner Zeit angesichts der weltweiten Not die Hauptaufgabe der Christinnen und Christen in zwei Begriffe gefasst: Beten und Tun des Gerechten. Das gilt heute ebenso und wird auch morgen gelten.