Das Evangelische Wort

Sonntag, 04. 05. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Mag. Roland Werneck, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Wien

 

 

Am 5. Mai 1945 wurde das Konzentrationslager Mauthausen befreit. In Österreich wird deshalb der 5. Mai als offizieller Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus begangen.

 

Je länger diese Zeit zurückliegt, desto schwieriger wird es, Formen der Erinnerung zu schaffen, die auch die junge Generation ansprechen. Es genügt nicht, neue Gedenktage einzurichten und wichtige Reden zu halten. Manche sagen, die heutige Jugend will von dieser Zeit vor mehr als 60 Jahren nichts mehr wissen.

 

Meine Erfahrung ist, dass diese Behauptung so nicht stimmt. Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele erzählen: einmal im Jahr findet in Wien der sogenannte Friedenstag für evangelische Schüler und Schülerinnen der Oberstufe statt. Seit 10 Jahren werden Zeitzeugen eingeladen, die von ihren leidvollen Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus berichten. Mehr als 150 Jugendliche sitzen in einer Kirche, hören zwei Stunden lang konzentriert zu und stellen Fragen. Zwei wichtige Themen beschäftigen die jungen Menschen jedes Mal neu: „Wie konnte es soweit kommen?“ und „Was können wir tun, damit so etwas nicht wieder passiert?“

 

Um auf diese Fragen antworten zu können, genügt es nicht, den Opfern zuzuhören, wir müssen uns auch mit der Seite der Täter beschäftigen. Diese Beschäftigung ist sehr schwierig und manchmal schmerzhaft, auch für uns als Christen und Christinnen. Denn es waren ja nicht einfach unmenschliche Monster, die das unmenschliche System möglich gemacht und unterstützt haben.

 

Es waren nicht selten auch kluge und intelligente Menschen, die den geistigen Boden dafür bereitet haben.

Dazu mein zweites Beispiel: In den letzten Wochen war in der evangelischen Gemeinde Graz-Heilandskirche und in Wien am Evangelischen Gymnasium eine Ausstellung zu sehen. Schüler und Schülerinnen des Martin Luther Gymnasiums in Eisenach im deutschen Thüringen haben sich unter der Überschrift „Gratwanderungen“ mit einem dunklen Kapitel der evangelischen Theologie- und Kirchengeschichte beschäftigt. Von 1939 bis 1945 gab es in Eisenach eine Einrichtung, deren Name ihr Programm war:

das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Anerkannte evangelische Theologieprofessoren aus Universitäten im ganzen deutschen Reich, auch aus Wien, arbeiteten an diesem Institut mit. Sie verknüpften die verhängnisvolle Tradition der christlichen Judenfeindschaft mit der Ideologie des rassistischen Antisemitismus. Mit wissenschaftlicher Akribie versuchten sie zu beweisen, dass Jesus keinesfalls Jude war, sondern als Arier sich allem Jüdischen in seinem Umfeld radikal entgegenstellte. Die Konsequenz dieser Konstruktion war, dass in einer deutschen Kirche kein Platz mehr sein sollte für jüdische Traditionen und hebräische Worte. So gaben die Theologen ein sogenanntes ent-judaisiertes Neues Testament und ein deutsch-christliches Gesangbuch heraus. Das Hosianna, das Halleluja und das Amen wurden durch deutsche Begriffe ersetzt. Das Alte Testament sollte als jüdisches Dokument im christlichen Gottesdienst keine Rolle mehr spielen. Die Begründung  war eindeutig: „Man kann nicht jüdische Wörter in einem Gottesdienst gebrauchen vor einem Volk, dass das Judentum mit guten Gründen hassen gelernt hat.“

 

So wurde das Evangelium in den  Kirchen und in der wissenschaftlichen Theologie damals missbraucht. Heute bekennen die evangelischen Kirchen: auch wir haben Schuld auf uns geladen. Wir haben gegen sichtbares Unrecht nicht protestiert, wir haben mitgemacht oder weggeschaut oder geschwiegen.

 

Heute fragen wir uns als Nachgeborene: Was können wir tun, damit so etwas nicht wieder passiert?

 

In Österreich begehen die evangelischen Kirchen dieses Jahr 2008 als Jahr der Standortbestimmung zum evangelisch-jüdischen Verhältnis. Im Zentrum steht die Erkenntnis: das Judentum ist die Wurzel, die die Kirche Jesu Christi trägt.

 

Unter dem Motto „Auf dem Weg der Umkehr“ werden alle evangelischen Christinnen und Christen aufgerufen, in Gebeten, Gottesdiensten und Veranstaltungen dieses Anliegen zu unterstützen. Beispiele wie der Friedenstag und die Ausstellung „Gratwanderungen“ zeigen, dass besonders die junge Generation diesen Weg der Umkehr zu gehen bereit ist.