Das Evangelische Wort

Sonntag, 01. 06. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Ulrich H. J. Körtner

 

 

Seinen letzten Winter verbrachte der Dichter Reinhold Schneider in Wien. Genau einen Monat nach seiner Rückkehr – nur wenige Wochen vor seinem 55. Geburtstag – starb er am 6. April 1958 in Freiburg. Fünf Tage vor seinem Tod konnte er noch das satzfertige Manuskript seiner Tagebuchaufzeichnungen mit dem Titel „Winter in Wien“ beim Verlag abliefern. Der tief gläubige Katholik, der sich am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligt hatte, wurde während und nach dem Zweiten Weltkrieg als überkonfessionelle Stimme des christlichen Gewissens in Deutschland gehört und gelesen.

 

In seinen Notizen spricht Schneider offen von seiner eigenen Skepsis und der Absurdität gläubiger Existenz. Zum Sinnbild seiner pessimistischen Geschichtstheologie wird Schneider ein Gang durch das Heeresgeschichtliche Museum: „Von Schritt zu Schritt, auf dem Wege durch die Räume, verhüllt sich dichter und dichter Gottes Bild. Nun, am Ausgang ist es verschwunden.“ Das gleiche Empfinden stellt sich bei einem Besuch des Naturhistorischen Museums ein. Auch hier ist Gott „ebenso nah wie fern. Es ist unmöglich, ihn vor dieser unübersehbaren Gestaltenwelt, dieser entsetzlichen Fülle der Erfindungen zu leugnen“; doch „das Antlitz des Vaters? Das ist ganz unfassbar.“

 

Schneiders Tagebuchaufzeichnungen sind ein heilsames Gegengift gegen die Propaganda der Kreationisten und die Idee eines „intelligent design“. Auch den allzu unbekümmerten Verfechtern einer kirchlichen Normaldogmatik seien sie ans Herz gelegt, gerade weil sie nicht den Geist eines plumpen Atheismus vom Schlage eines Ronald Dworkin atmen, sondern denjenigen einer gläubigen Skepsis, die darin recht hat, dass der Zweifel den Glauben nährt und der Glaube den Zweifel.

 

Was das Antlitz des Schöpfergottes, an dessen Existenz für Schneider kein Zweifel besteht, verdunkelt, ist das biologische Grundgesetz des Fressens und Gefressenwerden, das nicht zu einem harmlosen „Stirb und werde“ abgeschwächt werden darf. Gerade die Faszination des „Designs“, die „Bewunderung der Zweckmäßigkeit, mit der ein Tier zur Vernichtung des anderen ausgestattet ist, […] grenzt an Verzweiflung“.

 

Die biblische Schöpfungsgeschichte urteilt, Gott habe die Welt „sehr gut“ geschaffen. Das ist keine Aussage über die vorfindliche Welt, sondern über die ursprüngliche Schöpfung, die vorgestellt wird als eine Welt ohne Gewalt zwischen Mensch und Tier, aber auch ohne Gewalt zwischen Tieren. In Wahrheit ist freilich auch der Mensch ein Produkt der durch Fressen und Gefressenwerden charakterisierten Natur. Kreationisten, die das leugnen, ist mit Reinhold Schneider entgegenzuhalten: „Wenn aber des Menschen Fall Anfang dieses sich zerfleischenden Elends war, so müssen wir die noch ausstehende Entdeckung menschlicher Fossilien in paradiesischen Formationen abwarten.“

 

Auch wenn theologisch zwischen der Welt unter der Herrschaft der Sünde und des Bösen und Gottes ursprünglicher Schöpfung unterschieden werden muss, besteht doch die eigentliche Herausforderung an den Schöpfungsglauben darin, das von Reinhold Schneider nüchtern beschriebene Gleichgewicht von Gestaltung und Vernichtung als Verwirklichung der guten Schöpfung Gottes und eben nicht bloß als deren Verzerrung zu denken.

 

Für Schneider „ist die Offenbarung der Liebe ein personales Wort an den, der glaubt, der zu glauben vermag, kein Wort an die Kreatur, die Räume, die Gestirne, auch nicht an die Geschichte (so paradox das zu sein scheint). Aus einer unbegrenzbaren kosmischen Dunkelwolke schimmert schwach ein einziger Stern; das muss uns genug sein; mehr ist nicht geoffenbart.“ Der Apostel Paulus hat demgegenüber in Römer 8 die Hoffnung geäußert, dass auch die Kreatur, die sich mit uns ängstigt, ihrer Erlösung entgegengeht und aus der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes geführt wird. Das freilich ist und bleibt eine Hoffnung wider alle Hoffnung.

 

 

Buchtipp:

Reinhold Schneider, Winter in Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/58. Mit der Grabrede von Werner Bergengrün, einer Porträtaufnahme sowie einer Wiedergabe der Totenmaske des Dichters, Verlag Herder, Freiburg i.Br. 42003.