Das Evangelische Wort

Sonntag, 20. 07. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Lutz Lehmann (Klagenfurt)

 

 

Galater 5, 1; 13 + 14

Der Apostel Paulus schreibt:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!
Wir sollen als freie Menschen leben.

 

Es kommt es darauf an,

dass ihr euch nicht wieder vom Gesetz versklaven lässt.

 

Dient einander in Liebe!

Das ganze Gesetz ist erfüllt,
wenn dieses eine Gebot befolgt wird:
„Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.“

 

Bei seinem Tod hinterließ ein alter Beduine seinen drei Söhnen elf Kamele. Dazu folgendes Testament: „Der älteste Sohn soll die Hälfte der Kamele bekommen, der mittlere ein Viertel und der jüngste Sohn ein Sechstel der Herde."

 

Die Söhne begruben den Vater und wollten dann die Kamele nach seinem Wunsch teilen – aber dann merkten sie: 11 kann nicht durch 2 geteilt werden – und durch 4 oder 6 schon gar nicht.

 

Die Söhne fanden keine Lösung – und so sandten sie nach dem besten Freund ihres Vaters. Der kam auf seinem Kamel geritten, hörte sich den letzten Willen seines alten Freundes an und sagte dann zu den Söhnen: „Ich schenke euch mein Kamel!“

 

Zuerst wollten die drei das nicht annehmen – doch dann merkten Sie, dass jetzt die Rechnung aufging: die Hälfte von 12, also 6 Kamele für den Ältesten, ein Viertel, also 3 für den Mittleren und ein Sechstel von 12, also 2 Kamele für den Jüngsten.

Zusammen aber waren das 11 – das Kamel des Freundes blieb einfach übrig und mit großer Dankbarkeit gaben sie es ihm zurück.

 

Man kann diese Geschichte natürlich als Denksportaufgabe lesen, als Rätsel – man kann sie aber auch als Lösungsvorschlag lesen für die schwierige Frage, die der Apostel Paulus in seinem Galater-Brief behandelt: Wie soll das gehen: als freier Mensch leben in einer Welt, in der alles durch Regeln und Gesetze, durch Verordnungen und Vorschriften geregelt ist?

 

Wie soll das gehen: als freier Mensch leben wo man doch dauernd spürt, dass man nicht einmal den Anforderungen, die man sich selber stellt, gerecht wird. Diese Fragen sind genauso wenig aufzulösen wie 11 dividiert durch 2 oder 4 oder 6 – wenn nicht, wie in der Geschichte, einer vorbeikommt und hilft.

 

Hilft, indem er etwas von sich hergibt - und damit die ganze Fragestellung verändert. Das eine Kamel des Freundes macht es den Söhnen möglich, dem Willen des Vaters gerecht zu werden und sich nun selbst am Besitz von 6 oder 4 oder 2 Kamelen zu erfreuen.

 

Der eine Sohn Gottes, so behauptet Paulus, macht es uns möglich, vor Gott gerecht zu sein und noch dazu den Regeln und Geboten, den Verordnungen und Vorschriften als freier Mensch gegenüber zu stehen.

 

Wenn einer sein Vertrauen auf Jesus setzt, sagt Paulus, werden die Regeln und Verordnungen auf einmal entzaubert: sie sind nicht mehr heilsnotwendig, sondern dienen schlicht und einfach dazu, das Zusammenleben der Menschen so gut wie möglich zu regeln, die Schwächeren vor dem Zugriff der Starken zu schützen.

 

Und wenn sie das nicht mehr im gewünschten Maße tun - dann sind sie zu ändern – das Gesetz ist schließlich für den Menschen da und nicht der Mensch für das Gesetz – das hat ja schon Jesus gesagt.

 

Aber was noch wichtiger ist: auch die Regeln, Verpflichtungen, Rollenbilder, die ich mir selbst für mein Leben gebaut habe, sind so einer Prüfung zu unterziehen: Dienen sie wirklich mir oder anderen Menschen? Mein Wert als Mensch besteht jedenfalls nicht darin, dass ich sie alle erfülle.

 

Denn durch meine eigenen Leistungen perfekt zu werden und vorbildlich – das geht genauso wenig, wie 11 ohne Rest durch 2 oder 4 oder 6 zu dividieren. Wenn ich darauf hoffen kann, dass Jesus mich gerecht macht, und nicht meine Leistung darauf, dass durch seinen Beitrag die Rechnung  für mich aufgeht, so wie 12 durch 2 und 4 und 6 – dann lässt mich das genau die Freiheit schnuppern, nach der ich mich so sehne.

 

Freiheit, die heißt: Nicht blindlings gehorchen, sondern prüfen und nachfragen, wenn ich am Sinn der Sache zweifle.

 

Freiheit, die heißt: Nicht dauernd mehr von mir verlangen, als ich schaffe, nicht in meinen Verpflichtungen aufzugehen, sondern immer neu zu fragen, was mein Nächster braucht – und was ich selbst.

 

Freiheit, die heißt: Meine Begabungen, meine Möglichkeiten zu erkennen, mich daran zu freuen und sie meinen Nächsten, meinen Mitmenschen, nutzbar zu machen.

 

Und wenn ich nicht mehr zu bieten habe als ein Kamel? Vielleicht ist es ja genau das, was meine Mitmenschen in diesem Moment ganz besonders nötig haben!