Das Evangelische Wort

Sonntag, 27. 07. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Landessuperintendent Thomas Hennefeld

 

 

Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Röm. 8, 38f.)

 

Vielleicht haben Sie einen Berggipfel erklommen oder haben an einem Badesee die Seele baumeln lassen. Es gibt diese Augenblicke, in denen wir uns mit der Natur eins wissen, in denen wir die göttliche Gegenwart besonders spüren. Und dann kann es sein, dass unsere Münder und Herzen zu einem großen Loblied anstimmen. Paulus hat aber nicht als Mitglied des Alpenvereins diese euphorischen Zeilen verfasst, sondern in einer Zeit der Not und Verfolgung, in der er seinen Glauben nicht preisgegeben hatte.

 

Und so stellt sich die Frage: Tragen diese Worte auch „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes“, wenn alles zerbricht, wenn mir der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, wenn sich rund um mich alles Menschliche in die Hölle auf Erden verwandelt?

 

Diese tiefe und authentische Gottesbeziehung, die dem Apostel Paulus eigen war, findet sich bei Menschen aller Religionen. Für Paulus kommt sie im Glauben an den Mensch gewordenen Gott, in Christus, zum Ausdruck.

 

Eine der für mich eindrucksvollsten Zeugnisse dieses paulinischen Gedankens sind die Tagebuchaufzeichnungen der holländischen Jüdin Etty Hillesum. Nach der Besetzung ihrer Heimat 1940 wurden die Studentin und ihre Familie, wie alle anderen Juden Amsterdams isoliert, entrechtet und ins Ghetto gepfercht. Zwei Jahre später kam sie ins Transitlager Westerbork, der letzten Station auf dem Weg nach Auschwitz. Hillesums ganzes Denken und Handeln war geprägt von konsequentem Altruismus und vom Glauben an das Gute im Menschen. Voll Leidenschaft und mystischer Einfachheit sind ihre Tagebücher, die sie zwischen 1941 und 1943 verfasst hat. In dieser schwierigsten Phase ihres Lebens entwickelte sie ein religiöses Bewusstsein, das atemberaubend ist.

 

Am 12. Juli 1942 schreibt sie:

Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.

 

Hillesum ist sich bewusst, dass diese Ereignisse zu gewaltig und zu dämonisch sind, als dass man darauf mit persönlichem Groll reagieren könnte. Aber trotz der Barbarei, von der sie umgeben ist, weiß sie: Am Menschlichen festzuhalten, Schönheit zu erkennen und zu beten  bedeutet, mit der Verwandlung von Mühsal in Güte zu beginnen.

 

Und im Angesicht des Todes, ein paar Wochen vor dem Transport nach Auschwitz, schreibt sie in ihr Tagebuch. 18. August 1943:

Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen davon austeilen. Mein Leben ist zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit dir, mein Gott, geworden.

 

Fern von der Besessenheit, die Existenz Gottes beweisen zu wollen, fern von Gedankenkonstrukten ist diese Gottsucherin in einem innigen Zwiegespräch mit dem lebendigen Gott. In dieser so furchtbaren Zeit ist die junge Frau offen für die Welt und für ihre Mitmenschen. Dabei war sie oft genug verzweifelt, fühlte sich am Ende, und doch blieb ihr auch in dieser entsetzlichen Lage die Freude am Leben und die Kraft, andere zu trösten. Die Zeugnisse der jungen Jüdin ermutigen uns, auch im Leid und im Angesicht des Todes an dem liebenden Gott festzuhalten und überall Spuren dieser Göttlichkeit zu entdecken.

 

Wie kann man sich der Gegenwart Gottes gewisser sein, als in den Worten Hillesums, die an Paulus erinnern:

Es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausende Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: „Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen“. Und sie vergessen, dass man in Niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist.