Das Evangelische Wort

Sonntag, 12. 10. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Ulrich H.J. Körtner

 

 

„Herr Pfarrer, beten Sie für mich!“, bittet mich ein Patient, als ich mich im Krankenhaus vom ihm verabschiede. Die Szene liegt schon Jahre zurück. Damals war ich Pfarrer in einer Gemeinde. Beten Sie für mich: Welcher Hilferuf, welche vielleicht auch versteckten Signale stecken in diesem Satz? Vielleicht will der Kranke mir sagen: „Ich fühle mich im Spital so hilflos und verunsichert“. Vielleicht auch: „Ich fürchte, es steht schlechter um meinen Gesundheitszustand als ich offen zugeben möchte“.

 

Was aber soll das Gebet bewirken? Hilft das Beten nur noch, wenn die Ärzte alles getan haben und mit ihren medizinischen Möglichkeiten am Ende sind? Dient das Gebet als Versuch, Gott gleichsam magisch zu beschwören, damit der Patient gesund wird? Sicher, es kann einem kranken Menschen seelisch helfen, wenn er weiß, dass jemand an ihn denkt, eben auch im Gebet. Aber können denn Gebete wirklich etwas bewirken? Können sie Menschen gesund machen? Hilft nicht gegen Krankheit – wenn überhaupt – nur die Medizin?

 

Doch wo bleibt in unserem modernen Gesundheitssystem der einzelne Mensch mit seinen Ängsten und Hoffnungen, seiner Lebensgeschichte und seinen Beziehungen, seinem Glauben oder seinem Unglauben, seiner Suche nach Sinn und Trost?

 

Nicht Organe sind krank, sondern der Mensch, dem sie gehören, und zwar der ganze Mensch mit Leib und Seele. Wer körperlich erkrankt, leidet auch seelisch. Auch seine sozialen Beziehungen zu anderen Menschen werden in Mitleidenschaft gezogen. Umgekehrt kann sich ein seelischer Konflikt als körperliche Erkrankung äußern.

 

Dieses Krankheitsverständnis entspricht den Einsichten jener Richtung in der Medizin, die sich Psychosomatik nennt. Ihr Grundgedanke besagt, dass körperliche Erkrankungen seelische Ursachen haben können. Dieser trifft sich mit biblischen Einsichten. Wo die Psychosomatik von seelischen Konflikten spricht, redet die Bibel freilich auch von Sünde. Beides ist nicht dasselbe, hat aber doch miteinander zu tun. Sünde meint die Entfremdung des Menschen von Gott, die dazu führt, dass er auch mit sich selbst und der Welt im Unreinen ist. Sie äußert sich in Beziehungsstörungen und Konflikten, die im Konflikt mit Gott ihren letzten Grund haben.

 

Die Psychosomatik begreift Krankheiten als Chance und als Weg zur Selbstheilung. Wo Krankheiten ihre Ursache in tiefen Lebenskonflikten haben, da kann auch das Gebet ein Weg zur Heilung sein. Das Gebet ist freilich keine Methode zur Selbstheilung, sondern vertraut sich Gott an, der uns heilen kann, indem er unsere Beziehung zu ihm heil macht.

 

Allerdings wissen wir auch, dass viele Menschen inständig beten und nicht gesund werden. Viele beten für kranke Angehörige, ohne dass das ersehnte Wunder eintrifft. Gebete vermögen wohl viel, aber nicht alles. Denn nicht alle Krankheiten haben ihre Ursache in seelischen Konflikten, und keineswegs ist jede Krankheit die Folge dessen, was die Bibel Sünde nennt. Wer das Gegenteil behauptet, stürzt seelisch Kranke oder auch körperlich Schwerkranke auf ganz verantwortungslose Weise in Glaubenskrisen und tiefe Verzweiflung. Gegen den Tod hilf kein positives Denken, und Depressionen oder unheilbare Krankheiten sind nicht einfach als Mangel an Glauben zu erklären, wie uns manche weismachen wollen.

 

So berechtigt nach biblischer Überlieferung auch der Wunsch nach Gesundung ist, es gibt auch das Beispiel des Paulus, der an einer chronischen Krankheit litt, von der er nicht geheilt wurde. Vielmehr ließ Gott ihn wissen, er solle sich an seiner Gnade genügen lassen, weil Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Unsere Aufgabe besteht unter Umständen darin, mit der Krankheit zu leben, ohne uns von ihr innerlich brechen zu lassen.

 

In solch einer Situation kann ein Gebet des Philosophen Blaise Pascal hilfreich sein. Es lautet: „Herr, ich bitte dich nicht um Gesundheit, nicht um Krankheit, nicht um Leben, nicht um Tod. Ich bitte aber: Nimm meine Gesundheit, meine Krankheit, mein Leben, meinen Tod in deine Hand.“