Das Evangelische Wort

Sonntag, 09. 11. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Erinnerung ist wichtig“

von Pfarrerin Marianne Fliegenschnee (Wien)

 

 

Heute ist der 9. November, ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung. Es sind keine schönen Erinnerungen, denen wir uns heute zuwenden. Es sind schwere Erinnerungen, Erinnerungen an Hass, Zerstörung und Menschenvernichtung. Wir denken heute daran - dass genau heute vor 70 Jahren - in der Nacht vom 9. auf den 10. November - im Jahr 1938 - in der sogenannten „Reichskristallnacht“ alle 14 Wiener Synagogen und 51 Bethäuser in Flammen aufgingen und so zerstört wurden. Auch in anderen Städten in Österreich und Deutschland brannten die jüdischen Gotteshäuser. Für die jüdische Bevölkerung hatte mit dieser Nacht endgültig die Zeit unfassbaren Leidens begonnen.

 

Die Evangelische Kirche hat dem heurigen Jahr das Thema: „Auf dem Weg zur Umkehr“ gegeben. Erinnerung ist heuer groß geschrieben.

In diesem Jahr gab es viele Veranstaltungen. Wir sind heutigen Jüdinnen und Juden begegnet und mit ihnen über die Bibel und das Leben ins Gespräch gekommen. Haben über unsere jüdischen Wurzeln und unser Verhältnis als Kirche zum Judentum nachgedacht und uns der schrecklichen Dinge erinnert, die in den Jahren der Nazi-Herrschaft passiert sind und an denen leider auch unsere Evangelische Kirche beteiligt war. Es gab Gedenkabende und Gedenkgottesdienste. In der Steiermark werden heute um 20.00 Uhr alle evangelischen Kirchenglocken zum Gedenken 5 Minuten lang läuten.

 

Immer wieder meinen Menschen: „Man muss doch endlich einmal das alles vergessen können!“. Ich aber glaube: Erinnerung ist wichtig. Wer vergessen will, der oder die will schnell damit fertig werden, es rasch hinter sich bringen, will weder das Grauen, die Orte, die Täter und schon gar nicht die Millionen Opfer sehen oder an sich heran lassen. Jahrzehnte lang hat Österreich lieber vergessen, als sich zu erinnern. Immer mehr merken wir aber, wie wichtig die Erinnerung trotz allen Schreckens ist.

 

Erinnern ist wichtig.

Er - innern heißt, es ins Innere vordringen zu lassen, es an mich heran zu lassen - es zu verinnerlichen. Erinnerung bleibt nicht an der Oberfläche. Erinnerung geht in die Tiefe.

 

Mir ist bewusst geworden, dass das Judentum, wie das Christentum, Religionen der Erinnerung sind. Wir erinnern uns an den Auszug aus Ägypten - immer wieder - weil das für uns unerlässlich zu unserer religiösen Identität gehört, weil wir nur durch die Erinnerung und die Verinnerlichung im damals Geschehenen erkennen können, was Gottes gutes Handeln auch für unser Leben bedeutet.

Auch bei jedem Abendmahl, jeder Eucharistie, die wir Christinnen und Christen miteinander feiern, erinnern wir uns. Denn Jesus sagte damals in jener Nacht bevor er starb: „Tut das zu meinem Gedächtnis - also zur Erinnerung!“

An diese Fäden der religiösen Geschichte knüpfen wir in der Kirche an, an diesen Fäden spinnen wir weiter, so verbinden sich diese Fäden mit uns und mit unserer Geschichte.

 

Die Bibel erinnert sich aber nicht nur an die guten Zeiten. In der Bibel ist auch aufgeschrieben, was die Menschen alles falsch gemacht haben. In der Bibel stehen auch die Mördergeschichten, wie meine Schülerinnen und Schüler im Gymnasium sagen würden. Auch daran sollen wir uns erinnern, daran dass wir Menschen uns immer wieder weit von Gott, seinen Geboten und der Menschlichkeit entfernt haben und entfernen, dass wir unendliches Leid über andere Menschen gebracht haben und immer noch bringen. Und dass auch die Kirchen daran nicht unbeteiligt sind. Auch daran - an die dunklen Zeiten der Geschichte - sollen wir uns erinnern.

Diese Erinnerung soll uns in eine bessere Zukunft führen.

 

„Erinnerung bringt die Erlösung näher“, dieser Satz findet sich auf der Wand von Yad va Schem, dem Gedenkzentrum an die Opfer der Schoa in Jerusalem.

So gehe ich mit einem Gebet in diesen Tag, und bitte Gott, dass uns die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse vor 70 Jahren der Erlösung und der Menschlichkeit näher bringen möge.