Das Evangelische Wort

Sonntag, 16. 11. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Johanna Zeuner (Wien)

 

           

In diesen Tagen und Wochen erinnere ich mich mit meinen Schülern doppelt: An den 9. November, an dem in Wien 42 Synagogen brannten vor 70 Jahren, feinsäuberlich herausgetrennt aus dem Großstadthäusermeer, und sehr systematisch und symbolisch.

 

Und an den 9. November 1989. Mit diesem Datum verbindet mich eine persönliche Erinnerung. Ich war kurz vor der Wende im Frühjahr 1989 in den Osten, wie wir das damals sagten, unterwegs - ich weiß noch, ich hatte eine Bibel im Gepäck und es wurde streng kontrolliert, nahezu unwürdig vor allem gegenüber der eigenen meist älteren Bevölkerung, die sich von einem Westbesuch gerne und zu Recht etwas Ausgefallenes mitbrachte.

 

Mein Zugabteil begann damals zu reden, normalerweise schwieg man besser in den öffentlichen Räumen der DDR, umso erstaunlicher also dass sich zwei jüngere Männer meinen Mitreisenden kundtaten. Sie berichteten von einem Ausreiseantrag, den sie gestellt hatten, in meinem Zugabteil saßen damals im Frühjahr 1989 gleich 2 Menschen, die nicht mehr da bleiben wollten, die Anträge gestellt hatten und hofften - auf die erlösende Zeit, den Glasnost. Ungewöhnlich dachte ich, ich hatte schon öfter diese Grenze passiert, aber so etwas war mir noch nie passiert. Sonst immer ängstliches, nahezu erstarrtes Schweigen an der Grenze, ehrfurchtsvolle Befehlshörigkeit wenn die Volkspolizei die Papiere prüfte und so manchen Koffer durchsuchte.

 

Ein halbes Jahre später ging die Mauer auf  - wir sahen es alle auf den Bildschirmen, “das war wie eine große Fete“, erkläre ich meinen Schülern und lasse einen Songtext lesen in dem es heißt: „Menschen die sich nicht kannten, waren so dicht aneinander dran, dass es aussah, als finge diese wunde Stadt - Berlin ist gemeint - noch einmal ganz von vorne an. In einem Meer aus Licht und Sekt an der offenen Grenze“.

 

Ja, „Wir sind ein Volk“ riefen die Menschen 1989 - in der damaligen DDR und an den osteuropäischen Grenzen.

 

„Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“, heißt es in der Bibel – damals tat das fast ein ganzes Volk – und die Mauer, die 26 Jahre gehalten hatte, die Ost und West auseinandergehalten hatte fiel.

Und nun 19 Jahre später, ob es sie gibt, die „blühenden Landschaften“ wie versprochen? Eine hohe Arbeitslosigkeit und gut renovierte Altstädte sind sichtbare Phänomene dieser ‚Wende – wohin?!’.

 

Menschlich bedauern diesen Schritt und Schnitt in der Geschichte heute manche. Sie haben viel verloren: An mitmenschlicher Wärme, an dem was das ‚Kollektiv’ einmal war, auf das hin sie überall erzogen wurden, daheim, im Kindergarten schon, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit. Sie spüren noch heute die soziale Kälte, die mit der Grenzöffnung Einzug hielt.

 

Ich habe eine zweite Erinnerung an diese Zeit – mit einem Freund, „der aus dem Osten kam“– geriet ich mitten in das Geschehen der sogenannten Montagsdemonstrationen im Herbst 1989. Diese Demonstrationen begannen in der Kirche.

 

Von hier aus wollte man den sogenannten ‚3. Weg’ organisieren, Pläne für eine Gesellschaft zwischen Sozialismus und Kapitalismus - Pläne für eine wirklich soziale Marktwirtschaft lagen in den Schubladen. In den Schubladen der Menschen, die sich über Jahre regimekritisch Gedanken gemacht hatten. Der Pfarrer Friedrich Schorlemmer gehörte dazu ebenso wie die Autorin Christa Wolf.

 

Ich erinnere mich an eine gesteckt volle Thomaskirche, die Leipziger Hauptkirche, an der schon Johann Sebastian Bach wirkte. Im Oktober 1989. Die Stimmung war befangen. Wird die Polizei eingreifen? Aber diese Stimmung war auch gelöst und entschlossen - in diesen alten kirchlichen Räumen, die etwas von einer ‚festen Burg’ hatten, von Schutz.

 

Die Menschen sangen lautstark in der übervollen Thomaskirche ein altes evangelisches Kirchenlied: „Sonne der Gerechtigkeit – gehe auf zu unsrer Zeit“. Damals sangen alle mit: Kirchennahe und ebenso ganz Ferne. In der 2. Strophe des Liedes heißt es dann „Brich in deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann“ – Dieser Wunsch ist mir geblieben und manchmal fühle ich mich noch in dieser Thomaskirche stehen, und staunen und singen…