Das Evangelische Wort

Sonntag, 14. 12. 2008,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Andreas Fasching (Wien)

 

 

Vom wachen Leben

 

„Werde wach!“, ruft mir der Engel im dritten Kapitel der Offenbarung des Johannes zu (Offb  3, 2). Aufwachen soll ich, aber ich schlafe doch nicht. Vielleicht ist das sogar das Problem, dass ich keine Ruhe finde in diesen Adventtagen. An so vieles ist noch zu denken. Alle wollen zufrieden gestellt werden zu Weihnachten: Die Partnerin, der Partner, die Kinder, die Eltern und die übrigen Verwandten. Und das ist gar nicht so einfach. Und je mehr ich es versuche, umso weniger scheint es mir zu gelingen. So vieles ist noch zu organisieren und zu besorgen. Und es ist alles so festgelegt, jedes Jahr wieder. Und ich spüre, dass da etwas in mir stirbt. Aber ich fühle mich ganz machtlos. Warum sagt der Engel nicht: „Komm doch zur Ruhe!“ Warum spricht er mir nicht zu: „Gott wird deine Zweifel aufheben. Er stillt deine Lebensangst. Er nimmt die Sorgen von dir?“ Dann wäre der Weg nach Weihnachten geebnet.

 

Aber der Engel ist unerbittlich: „Werde wach!“ Seine Worte haben es in sich. Sie provozieren. Aber vielleicht ist das heilsam, weil sie mich zum Nachdenken bringen. Sie lassen mich neu nach Gott fragen und nach seinem Platz in meinem Leben. Und wer nach Gott fragt, fragt auch nach sich selbst und den Veränderungspotentialen seines Lebens:

 

Und wenn du mich fragst:

„Soll ich jenen dort aufwecken

oder ihn schlafen lassen, damit er glücklich sei“,

so würde ich dir antworten,

dass ich nichts über das Glück weiß.

Aber würdest du deinen Freund schlafen lassen,

wenn ein Nordlicht am Himmel stünde?

Keiner darf schlafen, wenn er es kennen lernen kann.

Und gewiss liebt jeder seinen Schlaf

und wälzt sich wohlig darin;

du aber, entreiß ihn seinem Glück

und wirf ihn hinaus, damit er werde.

 

Diese Worte von Antoine de Saint Exupéry bringen mich zum Kern der Tage auf Weihnachten zu: Der Advent ist eine Zeit der Erwartung, nicht der Vertröstung. Der Advent will zum Aufbruch bewegen, zu mehr Menschlichkeit.

 

Werde wach! Verlass den dämmrigen Zustand der Gleichgültigkeit, der dir vorgaukelt: „Es ist doch nicht so schlimm“, oder: „Da kann man halt nichts machen“. Ohne Achtsamkeit lebst du an der hoffnungsvollen Wirklichkeit des Advent vorbei.

 

Ein wacher Mensch ist für mich jemand, die oder der im Alltag wahrnimmt, was sie erlebt, was ihm Angst macht, was ihr Kraft gibt, was ihn verunsichert, was sie hoffen lässt, was in ihm Widerstand weckt. Wache Menschen stiften einander an, den tagtäglichen Erfahrungen zu trauen ohne sie zu bewerten oder zu beurteilen. So zu leben ist sehr anspruchsvoll. Wer das versucht, hat sein Leben nie ‚im Griff’; es ist jeden Tag aufs Neue im Werden.

 

Das bedeutet, dass ich mir selbst, den anderen und der Umwelt mit einem wohlwollenden Blick begegne. Und dieser Blick lebt aus dem Vertrauen, dass Gott in einer jeden und einem jeden von uns wohnt und wirkt. Das lerne ich von Jesus: Unermüdlich in jedem Menschen Gott erkennen. Und der Partnerin, dem Partner, den Kindern, den Arbeitskollegen, den Nachbarn gegenüber aussprechen, was ich an ihr oder ihm schätze. Auf der Grundlage dieses Wohlwollens kann ich dann auch sagen, womit ich mir schwer tue und mit welcher Seite dieses Menschen ich auch Mühe habe.

 

Werde wach! Geh den Weg, auf den der Engel aus der Offenbarung des Johannes dich lockt! Dann wird Weihnachten tief in dir. Und das Licht Gottes wird durch dich scheinen.