Das Evangelische WortSonntag, 10. 05. 2009, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
Verwurzelt von Ulrike Wolf-Nindler
Vor unserm Haus steht ein großer
Nadelbaum. Den habe ich im Lauf der Zeit lieb gewonnen wie einen
guten Freund, der mir vertraut ist. Er ist so alt, dass sich seine
Wurzeln schon weit unter und über dem Boden strecken. Und das, ja,
man könnte es so sagen, gibt mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
Mein Baum braucht seine Wurzeln: Denn diese erst machen ihn stabil.
Und die Ursache hierfür liegt demnach im Unsichtbaren.
Deshalb ist mir mein Baum so auch zum
Bild geworden:
- Dafür, dass Stärke vielfach aus dem
Wachsen im Verborgenen, ja manchmal sogar Geheimen entsteht.
- und das, was wächst, pflegen, in der
Hoffnung, dass es größer wird und gedeiht. Das ist beim Menschen auch nicht anders: Jeder Mensch hat eine Kindheit, und wer nicht völlig isoliert gelebt hat, hat sie in einer mehr oder weniger familienähnlichen Struktur verbracht. Die mag beim Einen unvergesslich schön gewesen sein, bei der Anderen hingegen traurig oder schrecklich. Und manchmal scheint mir, dass uns das alles gar nicht recht bewusst ist, so wie wir ja auch Wurzeln oft erst dann wahrnehmen, wenn sie behindert werden oder sonst wie leiden.
Wie auch immer: Man kann die Kindheit als Zeit der Verwurzelung bezeichnen. Und so gesehen hängt unsere Gegenwart untrennbar für immer mit unserer Vergangenheit zusammen, und unsere Art unser Leben zu gestalten oder zumindest zu bewältigen, hat viel damit zu tun, was wir in unsrer Kindheit einst gelernt haben.
Ähnlich, meine ich, verhält es sich auch mit der Kraft in unsrer Seele. Denn der geistliche Mensch in uns braucht seine Wurzeln: Den Frühling mit seinem Nehmen, Wärmen und Blühen; den Sommer mit seinem Genießen, Lieben und Wachsen; den Herbst mit seinem Geben, Teilen und Reifen; und den Winter mit seinem Abwarten, Zulassen und Ruhen.
“Seid in Christus verwurzelt und baut euer Leben ganz auf ihn. Bleibt im Glauben fest und lasst euch nicht von dem abbringen, was euch gelehrt worden ist“, heißt es im Neuen Testament im Brief an die Kolosser. Das scheint mir wichtig in einer Welt, wo alles und alle so instabil geworden sind.
Glauben an die nächste Generation weitergeben: Das ist nie leicht gewesen und bestimmt auch oft genug gescheitert, aber nicht bei Ruth, die einst ihr Leben selber in die Hand nahm, und nicht bei Lydia, die ihr Haus der christlichen Gemeinde öffnete, und nicht bei zahllosen anderen Frauen im Laufe der Jahrtausende.
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