Das Evangelische Wort

Sonntag, 06. 09. 2009,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Dr. Jutta Henner (Wien)
 


Woran denken Sie, wenn Sie die Stichworte „Meer“, „Küste“ und „Boot“ hören? An sommerliche Urlaubstage an hellen Sandstränden, an das sanfte oder auch ein wenig kräftigere Treiben der Wellen? Schöne, idyllische Gedanken und Bilder, strahlende Sonne am blauen Himmel, blau-silbern das Meer? Kreuzfahrt, Segeltörn oder ein kleiner Bootsausflug, und sei es nur mit dem Tretboot für ganz kurze Zeit?

 

Die Küsten des Mittelmeeres, besonders die der Inseln, haben wunderbare Eindrücke zu bieten. Millionen Menschen machen sich alljährlich auf den Weg dorthin. Ob Erlebnisreise oder Entspannungsurlaub, im sonnigen Süden ist meist gut sein. Auch ich erlebe gerne die Faszination von Meer und Küste, staune über die Schönheit der Natur und schätze die Gastfreundschaft.

 

„Meer“, „Küste“ und „Boot“ stehen aber leider auch für das Schicksal tausender verzweifelter Menschen, die mit alles andere als hochseetauglichen Booten die Fahrt übers Mittelmeer wagen, in der Hoffnung, im sicheren Europa ein neues Leben beginnen zu können. Aus den Ländern Afrikas kommen sie, aus dem Nahen und Fernen Osten. Sie haben alles hinter sich gelassen, teilweise hinter sich lassen müssen, sie sind auf der Flucht. Sie mögen Opfer von Schleppern und Menschenhändlern geworden sein. Jetzt sind sie auf dem Meer und erreichen die Küsten Europas. Es hätte gar nicht erst die unfassbaren Berichte gebraucht, die in der zweiten Augusthälfte Europa aufgerüttelt haben: So auch die fünf Flüchtlinge aus Eritrea, die mit ihrem Boot an der Küste der südlichsten Insel Italiens, Lampedusa, strandeten. Wie Abertausende vor und auch nach ihnen dort, auf Malta oder Sardinien, auf Sizilien, auf einer der griechischen, einer der kanarischen Inseln „stranden“. Für die betroffenen Länder kaum noch zu bewältigen ist der Ansturm.

 

Warum hat gerade das Schicksal dieser fünf Eritreer so Wellen geschlagen? War es der Bericht, dass nur sie fünf es bis an die Küste Europas geschafft hatten, dass 73 weitere, mit ihnen ursprünglich im Boot Gewesene unterwegs „wegen Entkräftung gestorben“ waren und die Verbleibenden ihre Leichen über Bord geworfen haben? Das Mittelmeer als Massengrab? Rasch stand die Frage im Raum, ob es überhaupt stimmen kann, dass 73 andere je die Reise mit angetreten haben. Sollten den Flüchtlingen wirklich Schiffe begegnet sein, die ihnen nicht zu Hilfe kamen? Eine gewaltige europaweite Debatte wurde ausgelöst: Wie können Flüchtlinge gerechter über die Länder der Europäischen Union verteilt werden?

 

Mich haben diese Ereignisse durch meine Urlaubstage begleitet. Mir kamen immer wieder die zahlreichen Flüchtlinge in den Sinn, von denen die Bibel berichtet. Es lohnt sich, ihr Schicksal in Erinnerung zu rufen. Menschen der Bibel waren auch schon auf der Flucht - vor politischen Machthabern, vor Hungersnöten und vor konkreter persönlicher Verfolgung. Schon auf den ersten Seiten der Bibel begegnen Flüchtlinge: Adam und Eva. Ihr Sohn Kain ist ebenso Flüchtling wie es Abraham sein wird. Josefs Brüder nehmen ihre Zuflucht in Ägypten, weil es dort Nahrung gibt. Das Volk Israel wird vor der bedrückenden Herrschaft des Pharao aus Ägypten fliehen. Ich könnte die Reihe fortsetzen; ja, auch Jesus war auf der Flucht - als kleines Kind mit seinen Eltern, nach Ägypten. Die ersten Christen fliehen aus Jerusalem - und bringen so erst das Evangelium bis an die Enden der Erde. Eindrückliche Geschichten und Schicksale.

 

Eines ist allen gemeinsam: Der Aufbruch ins Ungewisse, die Flucht, kann durch Gottes Handeln zum Segen werden, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch und gerade für die, die ihnen begegnen. „Gott hat die Fremdlinge lieb“ - lese ich in der Bibel. Wo erfahren Flüchtlinge heute durch konkrete Begegnungen, dass sie als Menschen, als Geschöpfe Gottes zu seinem Bild, respektiert, geschätzt, gar geliebt sind? Die Bibel fordert heraus! Gleichbedeutend ist das Wort in den Sprachen der Bibel für den „Fremden“ wie für den „Gast“. Gastfreundschaft nicht nur für zahlungskräftige, sonnenhungrige Urlauber, sondern auch und gerade für erschöpfte und traumatisierte Menschen, die außer ihrem Leben nichts mehr haben. Ich lese in der Bibel die Einladung: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Man könnte auch übersetzen „Fremdenfreundlich zu sein vergesst nicht...“. Überraschungen sind dabei - Gott sei Dank - offensichtlich nicht ausgeschlossen.