Das Evangelische Wort

Sonntag, 20. 09. 2009,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Ulrich H. J. Körtner

 

In memoriam Wolfgang Klein

 

 

„Jeder ist ein Mensch für sich“, pflegte mein Großvater zu sagen. Er wusste die Eigenarten, Ecken und Kanten seiner Mitmenschen mit Humor zu nehmen. Besteht unsere Lebensaufgabe nicht genau darin, unverwechselbar wir selbst zu sein? Aber was heißt das eigentlich, ein Selbst zu sein? Wer bin ich? Und wer will ich sein? Entscheide ich das ganz für mich allein, oder gibt es jemanden, der mir sagt, wer ich bin und wer ich sein soll?

 

Viele Menschen fühlen sich davon überfordert, sie selbst zu sein. Sie möchten lieber so sein wie andere oder sich von anderen sagen lassen, wie sie zu sein haben. Ein Sprichwort sagt: „Jeder Mensch wird als Original geboren, aber die meisten sterben als Kopie“. Angeblich ist Individualität in unserer Gesellschaft groß geschrieben. In vielen Fällen handelt es sich jedoch nur um eine nachgeahmte oder geliehene Individualität. Lifestyle von der Stange, gewissermaßen individuelle Gleichförmigkeit. Im Wunsch, ein unverwechselbares Ich zu sein, unterwerfen sich Menschen dem Diktat der wechselnden Moden, vorgefertigten Meinungen oder den fragwürdigen Vorbildern irgendwelcher Stars und Sternchen.

 

In den Erzählungen der Chassidim berichtet Martin Buber von Rabbi Sussja, der kurz vor seinem Tode sagte: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ‚Warum bist Du nicht Mose gewesen?’ Man wird mich vielmehr fragen: ‚Warum bist Du nicht Sussja gewesen?’ Man wird mich nicht fragen: ‚Warum hast du nicht das Maß erreicht, das der größte und gewaltigste Glaubende unserer Religion gesetzt hat?’ Sondern man wird mich fragen: ‚Warum hast du nicht das Maß erfüllt, das Gott dir ganz persönlich gesetzt hat? Warum bist du nicht das geworden, was du eigentlich hättest werden sollen?’“

 

Jeder von uns ist ein unverwechselbares Geschöpf und Kind Gottes, von ihm ins Leben und beim Namen gerufen. Unser Sein ist allerdings noch im Werden. Es ist Gabe und Aufgabe zugleich. Wir sollen allererst werden, wozu wir bestimmt und berufen sind.

 

Wie es Menschen gibt, die verzweifelt nicht sie selbst, sondern ein anderer sein wollen, so gibt es auch Menschen, die verzweifelt sie selbst sein wollen. Das meint: Sie wollen nicht dem Bild entsprechen, zu dem Gott sie bestimmt hat, sondern dem Ideal, das sie selbst von sich entworfen haben. Sie wollen nicht akzeptieren, dass Gott der eigentliche Autor unserer Lebensgeschichte ist, sondern sich gewissermaßen selbst erschaffen. Sie wollen geradezu zwanghaft authentisch sein – und verlieren sich dabei ebenso wie die, die sich anderen bis zu Selbstaufgabe anpassen.

 

In einer Betrachtung zum Weihnachtsfest schrieb der evangelische Theologe Rudolf Bultmann, der vor 125 Jahren geboren wurde und einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts war: „Wir sind nicht die, die wir zu sein scheinen, zu sein meinen. Wir sind die, die wir im Lichte Gottes sind. Wir sind, was wir hier und jetzt nie sind, aber das, was wir hier und jetzt nie sind, gerade das ist unser eigentliches Sein.“

 

Das aber heißt doch: Mein Selbstwert und meine Würde hängen nicht von dem ab, wie andere mich sehen und beurteilen, auch nicht davon, wie ich mich selbst sehe und beurteile, sondern einzig und allein davon, wie Gott mich sieht und beurteilt. Und nicht ich bin es, der mein Leben zu einer Ganzheit vollendet, sondern Gott – durch alle Brüche und Unvollkommenheiten meines Lebens hindurch.

 

Unser eigentliches Sein, von dem Bultmann spricht, liegt nicht offen zu Tage, sondern es ist noch verborgen. Dieses Sein, zu dem wir unterwegs sind, bleibt das Geheimnis eines jeden Menschen, dem wir mit Achtung und Ehrfurcht zu begegnen haben. Im 1. Johannesbrief heißt es dazu: „Schon jetzt sind wir Kinder Gottes, doch es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wir, wenn es zutage tritt, Gott gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“