Das Evangelische Wort

Sonntag, 01. 11. 2009,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Andreas Fasching (Wien)

 

 

Vom Zwang befreit Stärke zu zeigen

Ich bin vom Zwang befreit Stärke zu zeigen,

muss niemand anders sein,

muss nicht glatt und perfekt sein,

habe Ecken und Kanten,

kann ich selber sein.

 

Diese Zeilen stammen aus einem Lied von Gretl Wolleitner, das in unserer Gemeinde oft und gerne gesungen wird, auch am gestrigen Reformationsfest. Vielleicht rührt die Beliebtheit daher, dass eine tiefe Sehnsucht in uns angesprochen ist: Unverstellt sein zu dürfen, wie ich wirklich bin – auch gegen den Mainstream des Glatten und Perfekten.

 

Stark und unverwundbar zu sein, ist ein uralter Traum der Menschheit. Sagen erzählen davon. Siegfried, der große Held im Nibelungenlied, tötet den Drachen. Er badet sich in dessen Blut und wird dadurch unverwundbar. Kein Schwert kann ihm etwas anhaben. Doch während er im Drachenblut badet, fällt ein Lindenblatt auf seine Schulter. Das ist die schwache Stelle, sein wunder Punkt.

 

Die griechische Sage erzählt von Achill, dem Helden von Troja. Seine Mutter Thetis will ihn unmittelbar nach der Geburt unverwundbar machen. Sie taucht ihn ins Feuer des Hephaistos und ins Wasser der Styx. Aber sie muss ihn dabei an der Ferse halten. Das bleibt die wunde Stelle, die Achillesferse.

 

Warum faszinieren solche Gestalten? Filme und Comics sind voll von Siegfriedtypen, von Helden, die nicht zu schlagen sind, unangreifbar. In ihnen spiegelt sich der uralte Traum, unverwundbar zu sein. Wir träumen ihn heute weiter, auf unsere Art. Wenn doch nur diese wunde Stelle nicht wäre. Im Grund unseres Daseins ahnen wir unsere Verletzlichkeit. Die Angst sitzt mir im Nacken oder ist mir auf den Fersen.

 

Es ist menschlich, nicht perfekt zu sein. Wo wirklich gelebt und gearbeitet, geliebt und Verantwortung wahrgenommen wird, da geschehen Verwundungen. Ich mache Fehler, kenne Widersprüche, Zerrissenheit, Wunden und Verletzlichkeit. Ausgeglichen leben wird, wer beide Seiten in seinem Leben zulassen kann, die starke und die schwache, die konstruktive und die destruktive.

 

Ich selber sein, mich nicht durch eine Rolle definieren, lässt mich einen anderen Umgang mit meiner Zerrissenheit finden. Ich lerne mich mit meiner Lebenskraft und mit meinem Scheitern anzunehmen, weil ich immer im Werden bin. Meine Schwachpunkte begleiten mich ein Leben lang. Indem ich sie Gott überlasse, kann ich daran wachsen und reifen. Ich brauche nicht außerhalb bekämpfen, was in mir versöhnt werden möchte.

 

Martin Luther hat das erkannt, als er im Römerbrief des Paulus von der „Gerechtigkeit vor Gott“, die aus dem Glauben kommt, gelesen und übersetzt hat. Noch als junger Mönch hatte er sich angstvoll bemüht, um dem großen Anspruch, den er von Gottes Seite auf sein Leben empfunden hat, gerecht zu werden. Wie hatte ihm sein Gewissen vorgehalten: Du bist nicht gut genug. Du bleibst meilenweit hinter dem zurück, wie ein Mensch vor Gott bestehen könnte.

 

Wie Schuppen muss es Luther von den Augen gefallen sein, als er von dieser „Gerechtigkeit aus Glauben“ gelesen hat. Denn sie meint das genaue Gegenteil seiner bisherigen Wahrheit. Gott will nicht, dass ein Mensch sein Leben perfektioniere, um ihm gerecht zu werden.

 

Mit Luther lerne ich von Paulus, dass ich nicht glatt und perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Ich bin anerkannt mit meinen Stärken und Schwächen. Und das gehört ja zum Schwierigsten, nicht vor sich selbst davon zu laufen und sich auch in seiner Erbärmlichkeit anzunehmen. Aber um Gottes Willen brauche ich nicht mehr so überanstrengt um mein Ich zu kämpfen. Ich muss mir nicht selbst Modell stehen und mir ständig ein neues Design verpassen. Ich darf darauf vertrauen, dass Gott mir gerecht wird – mir, so wie ich wirklich bin. Und dieser Glaube befreit mich vom Zwang Stärke zu zeigen und eröffnet einen neuen, weiten Horizont zum Leben.