Das Evangelische Wort

Sonntag, 29. 11. 2009,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Michael Chalupka

 

 

"Sie brachten auch kleine Kinder zu ihm, damit er sie anrühren sollte. Als das aber die Jünger sahen, fuhren sie sie an. Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen."

(Lk 18,15f.)

 

Kinder leben heute sicher und behütet. Sie sind unser Augapfel, unser ein und alles, denn viele von uns haben nur mehr eines. Wir leben in einer Gesellschaft, die so wenige Kinder hat, wie nie zuvor.

 

Doch einen Ort gibt es, der ist gefährlich für Kinder und Jugendliche. Der gefährlichste Ort für Kinder ist heute die Familie. Darüber wird wenig gesprochen. Es wird immer nur dann darüber gesprochen, wenn wieder ein Fall an die Öffentlichkeit dringt. Wenn einem Kind Gewalt angetan wird, die nicht mehr zu verbergen ist, oder wenn Jugendliche, die selbst Gewalt und Missbrauch erfahren haben zu Gewalttätern werden. Dann sind die Schlagzeilen voll. Und wir sorgen uns, ob unsere Jugendlichen immer gewalttätiger werden. Ein Mitarbeiter einer Jugendwohlfahrteinrichtung der Diakonie hat sich kürzlich beklagt, ein, zwei Extremfälle kommen in die Schlagzeilen, die tausend Grenzfälle, bei denen wir versuchen, Kinder und Jugendliche wieder zu stabilisieren und sie der Gewalt zu entwöhnen, interessieren niemand.

 

Auch bei massiven Anzeichen für Gewalt oder Missbrauch von Kindern ist der Weg steinig und mühsam, den Kindern helfen zu können, oder sie gar den gewalttätigen Eltern oder Lebensgefährten der überforderten Mütter zu entziehen. Die Scheu, Kinder aus dem familiären Umfeld in eine Form der institutionellen Erziehung zu verpflanzen ist groß.

 

Wenn wir in diesen Tagen die Kerzen am Adventkranz entzünden, sollten wir daran denken, dass der Adventkranz ursprünglich ein pädagogisches Produkt institutioneller Erziehung ist. Der Begründer der Diakonie Johann H. Wichern hatte 1833 vor den Toren Hamburgs ein kleines Bauernhaus für verwahrloste und verwaiste Kinder aus den Elendsvierteln der Stadt eingerichtet.

 

Wichern verfolgte eine völlig neue pädagogische Idee: Seine "Zöglinge" sollten nicht in einer der damals üblichen Erziehungskasernen aufwachsen, sondern in betreuten Familien von zehn bis zwölf Kindern. Der erste Adventkranz war ein hölzerner wagenradgroßer Leuchter, der mit vier großen weißen und 19 kleineren roten Kerzen geschmückt war und sollte die Kinder, die aus desolatesten Verhältnissen kamen, auf das Weihnachtsfest vorbereiten.

 

Der Adventkranz hat sich durchgesetzt, die Achtsamkeit, mit der Johann Hinrich Wichern auch noch den aussichtslosesten Fällen eine Chance geben wollte, nicht. „Die mit den allerschlechtesten Zeugnissen und Aussichten“ wolle er in seinem „Rauhen Haus“ aufnehmen, die rauen Gesellen und gefallenen Mädchen. Die Worte Jesu: „Lasset die Kinder zu mir kommen“ waren für ihn Auftrag und Leitschnur seines Handelns.

 

Der Adventkranz hat sich durchgesetzt, die Achtsamkeit Wicherns, allen Kindern eine Chance zu geben, nicht. Im Jahr 2009 haben nicht alle Kinder in Österreich die gleichen Chancen. Österreich zählt über 100.000 Kinder in manifester Armut, sieht zu, wie Kinder mit Migrationshintergrund oder mit Behinderung vom Schulsystem benachteiligt werden und verweigert unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen den ihnen zustehenden Schutz. Erst jetzt liegt eine Gesetzesvorlage der Kinderrechte im Parlament. „Der jetzige Entwurf klammere ausgerechnet all jene Rechte des Abkommens aus, die für Flüchtlingskinder von zentraler Bedeutung seien.“, kritisiert etwa das UNO Flüchtlingshochkommisariat.

 

Wenn wir mit unserer Familie um den Adventkranz versammelt sind, kann er uns auch daran erinnern, dass nicht alle Familien ein Hort des Friedens sind, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen auf Rosen gebettet sind, sondern, dass wir etwas tun müssen, um ihnen die gleichen Chancen zu geben, und zwar allen Kindern, denn ihnen allen gehört das Himmelreich, und denen mit den allerschlechtesten Zeugnissen und Aussichten ganz besonders.