Das Evangelische Wort

Sonntag, 09. 05. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfr. Harald Kluge, Reformierte Stadtkirche Wien

 

 

 „1 Und es gab ein großes Geschrei beim Volk und ihren Frauen.

2 Wir mit unseren Söhnen und unseren Töchtern sind viele! Und wir wollen Getreide haben, damit wir essen und überleben können!

3 Wir müssen unsere Felder und unsere Weinberge und unsere Häuser verpfänden, damit wir Getreide bekommen in der Hungersnot.

4 Wir mussten Geld leihen für die Steuer des Königs, auf unsere Felder und unsere Weinberge.

5 Wir müssen unsere Söhne und unsere Töchter zu Sklaven erniedrigen! Und unsere Weinberge gehören anderen!

6 Und als ich, Nehemia, ihren Hilferuf und diese Worte hörte, wurde ich sehr zornig.“

Nehemia 5, 1-6

 

„Als ich ihren Hilferuf und ihre Schreie hörte, wurde ich sehr zornig“, schreibt der Prophet Nehemia im Alten Testament. Die kleinen Leute, die Bauern und Gewerbetreibende und deren Familien, Frauen und Kinder beschweren sich lautstark. Sie gehen auf die Straße und üben öffentlichen Protest – das bereits vor etwa 2.500 Jahren!

Es ist ein altes Bild, das uns durch die Jahrhunderte immer wieder begegnet. Missernten und eine drückende Steuerlast treiben viele Familien in die Schuldenfalle. Ohne Gnade und Hilfsgelder schlittern sie in den wirtschaftlichen Ruin. Die Menschen, die auf die Straße gehen, haben viel zu verlieren und sie haben bereits vieles verloren. Die Schulden sind allen über die Köpfe gewachsen. Die potjomkinschen Dörfer sind zusammengebrochen. Und weite Kreise der Gesellschaft sind wütend und zornig und stecken sich mit ihrer Wut noch mehr an.

„Zorn ist ein schlechter Ratgeber.“ Und ganz schlecht ist Zorn als Antrieb fürs Handeln dann, wenn dabei unschuldige oder auch wenn vermeintlich schuldige Menschen umkommen oder wenn, etwa die Ordnungshüter, bei den Auseinandersetzungen verletzt werden. In der Bibel ist Zorn aber in manchen Fällen eine angemessene Reaktion auf Unrecht. Dabei kann es sich um ungerechte politische und wirtschaftliche Strukturen handeln oder ungerechte Rechtsprechungen, die Menschen zornig klagen und handeln lassen. Dann, wenn Menschen unter einer gefühllosen Gewalt von wirtschaftlichen oder rechtlichen Strukturen zu zerbrechen drohen, stecken sie andere mit dem Gefühl von Ohnmacht und ihrem Zorn darüber an. Der Zorn darüber, was andere an Unrecht erleiden, ist eine Möglichkeit, das menschliche Elend an sich heran zu lassen. Und wer wird nicht wütend, wenn er über den Hunger und das Elend in der Welt nachdenkt, die wir noch immer nicht wirksam bekämpfen konnten. Wer bleibt ruhig, wenn er an die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Fremdenrechten und Menschenrechten in der Welt und in Österreich denkt. Wen packt nicht die ohnmächtige Wut, wenn er die Ölkatastrophen, den Super-Gau im Golf von Mexiko und jenen am Great Barrier Reef vor Australien sieht, die ölverschmierten Strände, Landstriche, Meereszonen und sterbenden Tiere und Pflanzen.

Zorn, meist nachdem er verflogen ist, ermöglicht durchaus ein angemessenes Handeln.

Wie löst etwa ein Prophet wie Nehemia die damaligen auftretenden ökonomischen Ungerechtigkeiten? Nehemia tritt klar für die Kleinbauern ein, will eine Eskalation der Gewalt verhindern. Er zitiert die Kreditgeber zu sich und wirft ihnen Wucher und Ausbeutung vor. Dabei findet er klare Worte und ringt ihnen schließlich einen totalen Schuldenerlass ab.

Wer es sich leisten kann, soll die Zeche zahlen. Es mag ein ökonomisches Märchen sein, das an der Wirklichkeit vorbeigehen mag, aber es hat Schlimmeres verhindert. Wie Nehemia das übrigens schafft? Indem er als Reicher und Schuldner mit gutem Beispiel vorangeht.

 

„Und auch ich, Nehemia und meine Brüder und meine jungen Männer haben den Menschen Geld und Getreide geliehen. Erlassen wir ihnen doch diese Schuld! Gebt ihnen doch noch heute ihre Felder, ihre Weinberge, ihre Ölbäume und ihre Häuser zurück und den Hundertsten des Geldes und des Getreides, des Weins und des Öls, das ihr ihnen geliehen habt! Da sagten sie: Wir geben es zurück und fordern nichts von ihnen; so wie du es sagst, werden wir es machen.“

Nehemia 5, 10-12