Das Evangelische Wort

Sonntag, 06. 06. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrerin Mag. Gundula Hendrich

 

 

6. Juni - Welterbetag -  „Ach, lass mich doch in Ruhe“, mault Hertha ihren Radiowecker an. „Ich habe keine Reichtümer angesammelt und also auch nichts zu vererben“. – „Weltkulturerbe“ verbessert sie sich und versucht im Halbschlaf zu überlegen, welche Kulturhauptstädte es in diesem Jahr sind. Keine einzige fällt ihr so früh am Morgen ein. Doch dann grinst sie vor sich hin.

 

„Ich werde den Tag heute umfunktionieren“, beschließt sie. „Mein Weltkulturerbe rückt heute Morgen nämlich ganz nah. Es liegt sozusagen auf dem Tisch, also auf dem Altar – in meiner Kirche.“

An die große Altarbibel denkt sie. Und an die vielen Erbstücke darin, also an die Bibeltexte, die Erfahrungen von Menschen mit Gott festhalten. „Unser Erbe. In den unterschiedlichsten Kulturen hier in der Welt.“ Sonntags im Gottesdienst werden einige dieser Erbstücke ausgepackt und dann funkeln sie wie Schmuckstücke vor sich hin. Manchmal, denkt Hertha, nagt ihre Pfarrerin in ihrer Predigt auf so einer Kostbarkeit herum, als müsse sie prüfen, ob es auch kein Talmi sei; aber meistens geht Hertha um einen Gedanken und einige Begegnungen bereichert nach Hause. Manchmal auch mit einem Ohrwurm. Die Orgelmusik und die Kirchenlieder gehören nämlich auch dazu, korrigiert sie sich leise.

 

Beim Frühstück wird sie nun langsam richtig wach.

 

Welterbetag. Das passt heute wirklich gut. Sie hat sich nämlich den Wecker gestellt, weil ein besonderer Gottesdienst ansteht, einer, in dem jede und jeder mitmachen kann. Ja, heute kann man nämlich nicht nur mitsingen und vielleicht etwas Lesen oder gar eine Fürbitte sprechen - Nein, heute können alle mitreden. Einfach so. Mitten aus der eigenen Kirchenbankreihe heraus. Sogar die Kinder. Bibliolog nennt sich das, wenn der Bibeltext sich öffnet und mit vielen Stimmen spricht, hat die Pfarrerin beim ersten Mal erklärt. So manches, was zwischen den Zeilen steht, werde da lebendig.

 

Hertha ist nicht mehr die jüngste und eigentlich mag sie lieber einen Gottesdienst mit dem gewohnten Ablauf und den vertrauten Liedern. Aber sie erinnert sich sehr gern an ihre erste Erfahrung mit dieser Methode, kürzlich am Palmsonntag. Die Pfarrerin hatte nach einer kurzen Einführung den Bibeltext lebendig werden lassen, indem sie einfache Fragen an Menschen oder Dinge im Text stellte. Und dann konnte, wer immer wollte, antworten.

Da hat sich natürlich erst mal keiner getraut. Aber dann ging’s wirklich los. Da meldeten sich auf eine Frage gleich mehrere und es wurde immer spannender. Jede Antwort wurde akzeptiert und gewürdigt. Den Esel, auf dem Jesus ritt, etwa hat sie gefragt, wie es ihm denn so geht mit Jesus auf dem Rücken. Und da hat der doch gesagt – also vielmehr war es eine sie, die da etwas sagte – „Es tut so gut, gebraucht zu werden.“

Diese Erfahrungen mit biblischen Texten durch den Bibliolog vergisst  Hertha nicht. Im Gegenteil, sie ist gerade auf den Geschmack gekommen und wünscht sich mehr davon.

 

Erben – für die einen ist das ein angenehmes Thema, weil Aussicht besteht, den eigenen Besitz zu vergrößern. Für andere ist es unangenehm, weil es zu Spannungen wegen ungeregelter oder gar ungerechter Erbangelegenheiten führt. Nicht zu reden von Erbschaftssteuern oder Schulden. Und an Schulden mag Hertha derzeit überhaupt nicht denken. Nicht nur wegen der Finanzkrisen, sondern auch wegen der Öl-Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko, die so viel Leben kostet, auch in den kommenden Jahren.

 

Hertha streckt den Rücken durch und richtet sich auf. Sie wird sich von den Katastrophen dieser Tage nicht in die Knie zwingen lassen. Sie wird ihre Sorgen heute mit anderen teilen können, ahnt sie. Auch dazu bietet so ein Bibliolog Raum. Und vertraut darauf, dass die Kraft Gottes dazu führt, dass sie offen ist für die Anliegen der anderen, offen auch dafür, Hoffnung geschenkt zu bekommen durch die Erfahrungen von Menschen mit Gott. Ihren Erfahrungen wird sie sich anvertrauen. Diese Menschen wird sie beerben, schmunzelt sie vor sich hin und macht sich auf den Weg.