Das Evangelische Wort

Sonntag, 27. 06. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Superintendent Manfred Sauer, Villach

 

 

Jesus spricht zu Thomas: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

 

„Wahr-nehmen“ – unter diesem Thema stand die letzte Ausstellung von Thomas Jahn in der Galerie im Markushof in der Superintendentur in Villach. Es waren fotografische Arbeiten ganz besonderer Art. Durch Spiegelungen, durch die Konzentration und Fokussierung auf kleine Ausschnitte und durch unterschiedliche Lichtführung hat der Künstler beim Betrachter Irritation und Unsicherheit erzeugt. Es brauchte einen zweiten und dritten Blick, um sich anzunähern und einzufinden.

 

Wahr nehmen, darin steckt das Wort wahr, Wahrheit – und das wollte der Künstler auch provozieren: Eine lebhafte Auseinandersetzung mit unterschiedlicher Wahrnehmung und einen kontroversiellen Diskurs über das Thema Wahrheit.

 

Unbestritten ist, dass wir uns  in unserer Wahrnehmung und damit in der Einschätzung und Beurteilung von Ereignissen und Personen immer wieder gewaltig irren und täuschen können. Ein und dasselbe Ereignis, ein und dasselbe Bild, ein und dasselbe Kunstwerk werden ganz unterschiedlich wahrgenommen, begriffen, beurteilt und verstanden. Deshalb ist Vorsicht geboten, nicht zu schnell zu urteilen, sondern sich Zeit zu nehmen, besonders wenn es um die Wahrnehmung, Einschätzung und Beurteilung anderer Menschen geht. Dazu möchte ich ihnen eine Geschichte erzählen, die glaube ich, erfunden ist, die sich vielleicht aber auch so hätte zutragen können.

 

Eine ältere Dame ist mit ihrem Auto auf einer dicht befahrenen Autobahn unterwegs. Die Fahrt ist äußerst anstrengend und sie beschließt, eine Pause einzulegen und fährt auf die nächste Raststation. Dort angekommen sucht sie sich einen Stehtisch, stellt sich beim Buffet in die Schlange und holt sich eine Suppe. Sie kehrt zurück zu ihrem Stehtisch, stellt die Suppe ab und klemmt die Handtasche unter die Tischplatte. Da fällt ihr auf, dass sie den Löffel vergessen hat. Sie kehrt zurück zum Buffet, muss wieder kurz warten, bis sie zu einem Löffel kommt und kehrt zurück auf ihren Platz. Da hält sie erschrocken inne. Sie traut ihren Augen nicht. Auf ihrem Platz steht ein Mann, ein dunkelhäutiger Mann. Nicht nur, dass er sich auf ihren Platz gestellt hat, es kommt noch dicker, der Mann löffelt und isst aus ihrer Suppe. Sie ist empört und denkt: Eine unglaubliche Unverschämtheit. Was sich diese Fremden alles herausnehmen. Sie beschließt zum Gegenangriff überzugehen. Sie stellt sich zu dem Fremden dazu, nimmt ihren Löffel und löffelt ebenfalls aus der Suppe. Der Mann lächelt sie nur freundlich an. Beide essen fertig. Da geht der Mann plötzlich weg und kehrt mit zwei Tassen Kaffee zurück. Die Frau ist überrascht. Ganz so unhöflich und unverschämt scheint der Mann doch nicht zu sein. Er versucht, die Sache wieder gut zu machen. Nach dem Kaffee verabschiedet sich der Mann höflich und verlässt die Raststation. Auch die Dame will gehen. Sie greift unter den Tisch, um ihre Handtasche zu nehmen, doch der nächste Schock, die Handtasche ist weg. Also doch ein Gauner und Betrüger dieser fremdländische Mann. Ärger und Wut keimen wieder auf, doch auf dem Weg zur Kassa bleibt sie verdutzt vor einem anderen Stehtisch stehen. Sie sieht auf dem Tisch einen Teller mit kalt gewordener Suppe und unter dem Tisch sieht  sie ihre Handtasche baumeln.

 

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, sagt Jesus im Johannesevangelium zu Thomas, der sich auch immer wieder sehr stark vom ersten Eindruck hat leiten lassen.

 

Um Wahrheit zu erkennen, sollten wir auf das Leben Jesu schauen und seinem Weg nachfolgen. Nicht vorschnell urteilen, nicht richten, sondern miteinander gnädig und barmherzig zu sein, einander mit den Augen der Liebe und des Vertrauens anzuschauen.