Das Evangelische Wort

Sonntag, 04. 07. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Dr. Jutta Henner (Wien)

 

 

An vielen Orten gedenkt man dieses Jahr eines Pioniers der Bibelverbreitung: Carl Hildebrand Freiherr von Canstein.

 

Canstein lebte und wirkte um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert im Osten Deutschlands. Er war ausgebildeter Jurist, schied aber bald aus dem Staatsdienst aus und konnte, nach kurzem Einsatz als Freiwilliger beim preußischen Heer, von seinem Vermögen leben – und sein Leben für seine große Vision einsetzen. 

 

Die Begegnung und der lebendige persönliche Austausch mit zwei charismatischen Theologen prägte Canstein: August Hermann Francke gründete, auch mit finanzieller Unterstützung Cansteins, in Halle an der Saale sein Waisenhaus – eine umfassende Diakonie- und Bildungsreinrichtung. Und Philipp Jacob Spener, dem eine biblische Spiritualität und das „Priestertum aller Gläubigen“ am Herzen lag, war ein enger Weggefährte Cansteins.

 

August Hermann Francke hatte im Jahr 1704 auf einen echten Mangel hingewiesen: „Wenn man das arme Volk genug mit Bibeln versehen könnte....“. Zwar gab es seit der Reformation die Bibel in deutscher Sprache. Der hohe Preis – zu Lebzeiten Luthers war es der Lohn eines Handwerkers von 6 Wochen! -  machte jedoch Bibelverbreitung in größerem Stil schlicht unmöglich!

 

Carl Hildebrand von Canstein wollte diese Situation ändern. Im Jahr 1710 – vor genau 300 Jahren - verfasst er die Schrift „Ohnmaßgeblicher Vorschlag, wie GOTTES Wort den Armen zur Erbauung zu einem geringen Preis in die Hände zu bringen ist.“ Als begeisterter Bibelleser möchte Canstein allen den Zugang zur Bibel ermöglichen. „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen!“ – diesen Vers aus dem Kolosserbrief stellt Canstein seinen Ausführungen voran. Seine Vision teilt Canstein begeistert und leidenschaftlich anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit und bittet um Spenden für sein großes Projekt.

 

Canstein weiß um eine revolutionäre technische Neuerung: Anstatt, wie seit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert üblich, einzelne Bleibuchstaben für einen Bogen zusammenzusetzen und nach dem Druck die Buchstaben wieder in den Setzkasten zurückzugeben, möchte er für die gesamte Bibel den „stehenden Satz“ einführen: Das ist teuer: „Zentnerweise Blei“ ist nötig, um für alle Seiten der Bibel die Buchstaben herzustellen und fix zu Platten zusammenzusetzen. Bereits nach kurzer Zeit rechnet sich das: Bibeln können in großen Auflagen schneller und preiswerter gedruckt werden.

 

Bereits 1712 werden in der mit Spendengeldern und Einsatz des eigenen Vermögens Cansteins eingerichteten Bibeldruckerei im Waisenhaus in Halle die ersten Neuen Testamente gedruckt. Canstein achtet auf eine hohe Qualität des Textes – fünf Ausgaben der Lutherbibel aus dem 16. Jahrhundert werden verglichen, um einen möglichst genauen Text zu haben. Auch der optische Eindruck ist ihm wichtig: Die Drucktype soll besonders für junge Menschen ansprechend und gut lesbar sein.

 

Zwischen 1712 und 1719, dem Todesjahr Cansteins, sollten sensationelle 80.000 Bibeln und 100.000 Neue Testamente die „Waisenhaus-Druckerei“ in Halle verlassen. Binnen 100 Jahren wurden es in 380 Auflagen zwei Millionen Bibeln und eine Million Neue Testamente. Binnen weniger Jahre sinkt der Preis einer  Bibelausgabe auf den sensationellen Preis von 6 Groschen, den Tagesverdienst eines Tagelöhners. Die Bibel kommt zu den Menschen.

 

Cansteins Idee und Erbe gehen weiter – bis heute: Binnen der vergangenen 20 Jahre konnten die Bibelgesellschaften weltweit allein 415 Millionen Bibeln und 300 Millionen Neue Testamente verbreiten. Wie zu Cansteins Zeiten ermöglichen Spenden Menschen, die sich sonst keine Bibel leisten könnten, vor allem in anderen Teilen der Erde, den Zugang zur Bibel.

 

Die Persönlichkeit und das Lebenswerk des Freiherrn von Canstein ist für mich ein überzeugendes Beispiel lebendiger Bibelfrömmigkeit, die Früchte bringt. Der wirtschaftliche und technische Sachverstand, sein für einen „Laien“ enormes theologisches Wissen, sein kompetentes und professionelles Wirken, aber auch seine Vernetzung mit Theologen wie mit Verantwortungsträgern in Gesellschaft und Politik, vor allem aber seine begeisternde und glaubwürdige aus dem regelmäßigen Lesen der Bibel sich speisende Frömmigkeit, haben ihn zu einer nachhaltig segensreichen Persönlichkeit gemacht.

 

Kirche – und Gesellschaft – brauchen heute dringend Persönlichkeiten wie Canstein, die sich von der Bibel und ihrer Botschaft motiviert, mit Herz und Verstand, mit Visionen, Know-how und nicht zuletzt mit finanzieller Unterstützung einbringen! Canstein brachte es auf den Punkt: Es sei ihm „nichts lieberes, als die wenige Zeit meines Lebens, mich und mein ganzes Vermögen dem großen Gott aufzuopfern.“