Das Evangelische Wort

Sonntag, 11. 07. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

Das evangelische Wort 11.7.2010

von Ulrich H.J. Körtner

 

 

Wochenende, Urlaubszeit, endlich tun und lassen können, was man will. Keiner, der einem Vorschriften macht. Endlich frei über die eigene Zeit verfügen können. Aber was fangen wir mit dieser Freiheit eigentlich an, wenn das Wochenende oder der Urlaub endlich angebrochen sind? Wir fürchten die Langeweile und möchten die freie Zeit sinnvoll nutzen. Wir wollen das Leben in vollen Zügen genießen und werden doch ständig von der Angst getrieben, etwas zu verpassen, ja überhaupt am Leben vorbeizugehen. Das Leben als letzte Gelegenheit: Wir stopfen es voll mit lauter Aktivitäten, die den Arbeitsstress nahtlos in den Freizeitstress übergehen lassen.

 

Freiheit, so sagt man, heißt tun und lassen können, was man will. Tatsächlich besteht wahre Freiheit gar nicht im Tun, sondern im Lassen. Im Sein-Lassen und in der Gelassenheit. So verstehe ich die Freiheit, zu der wir nach Paulus durch den Glauben an Christus befreit werden, nämlich als Freiwerden von inneren und äußeren Handlungszwängen. Das ethische Grundproblem besteht weniger im fehlenden Engagement als in der Distanznahme zu den Mitmenschen und zur Natur, die aus unserem Zugriff befreit und vor unseren Übergriffen geschützt werden müssen.

 

Der Vorwurf von Karl Marx lautete, die Philosophen hätten die Welt immer nur verschieden interpretiert, statt sie zu verändern. Der Philosoph Odo Maquard hält dagegen, die Philosophen hätten die Welt genug verändert; es komme vielmehr darauf an, sie zu verschonen. Tatsächlich hat die Bewahrung der Schöpfung entscheidend mit unserer Bereitschaft zur Schonung und zum Sein-Lassen zu tun.

 

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, nicht etwa das Recht auf Arbeit, sondern das Recht auf Faulheit eingeklagt hat. Die Forderung nach dem Recht auf Arbeit sei in Wahrheit Verrat an der Arbeiterklasse, weil dadurch nur eine unmenschliche Arbeitswut gerechtfertigt würde. Der Mensch verwirkliche sich in der Muße, und der Arbeit bedürfe man lediglich als Würze der Faulheit.

 

Starker Tobak? Nach biblischer Tradition lebt der Mensch nicht vom Brot und nicht von der Arbeit allein. Das verdeutlichen der jüdische Sabbat wie der christliche Sonntag. Gerade im Recht auf Freiheit von der Arbeit kommt die Würde des Menschen nach biblischem Verständnis zum Ausdruck. In biblischer Perspektive ist Freizeit mehr als die bloße Ruhepause, die zur Regeneration der Arbeitskraft dient. Die freie Zeit, welche dem Menschen eingeräumt wird, hat ihren eigenen Wert. Doch wie ist sie sinnvoll und der Würde des Menschen gemäß zu nutzen?

 

Wer mit sich und seiner freien Zeit nichts anzufangen weiß, erfährt sie nicht als Segen, sondern als Fluch. Gerade Menschen, die ungewollt arbeitslos sind, brauchen Hilfe, um ihre Zeit sinnvoll zu gestalten, statt sie einfach totzuschlagen. Auch das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

 

Wir brauchen eine Ethik der Freizeit und der Muße. Die heute übliche Freizeitgestaltung hat nur sehr bedingt etwas mit Muße zu tun. Zum einen arbeiten viele noch in ihrer Freizeit. Zum anderen sind Freizeit und Urlaub ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Und schließlich trägt das individuelle Freizeitverhalten nicht selten Züge von Arbeit.

 

Lebenssinn und Selbstwert hängen weder im Beruf noch in der Freizeit allein am tätig Sein, sondern an der Erfahrung der Güte Gottes. „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“, schreibt der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief. Die Würde jedes Menschen und das Recht auf Leben bestehen unabhängig von allen Leistungen. Arbeit ist bestenfalls das halbe Leben.