Das Evangelische Wort

Sonntag, 25. 07. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

„Gottes Familie“

von Pfarrer Dr. Matthias Geist, Wien

 

Vor mir liegt wieder ein Tag inmitten meiner großen Familie. Und ich weiß gar nicht, wo und bei welchem Verwandten ich anfangen soll. Denn wenn ich an meinen Arbeitstagen durch die Justizanstalten Wiens gehe, besuche ich ganz besondere Familienmitglieder. Ich sehe gerade sie als Angehörige der einen Familie Jesu: Die schuldigen Strafgefangenen und die – vor dem Gesetz unschuldigen – Untersuchungshäftlinge. Und die Gespräche und Begegnungen sind Geschenke, die auf mich warten und mein Leben bereichern. Nicht jeder beneidet mich aufs Erste hin. Manche mutmaßen mitleidsvoll, dass die Arbeit im Gefängnis wohl „schwer“ sein muss. Andere finden es sogar überflüssig oder falsch, wenn sich die Kirche mit dem Abschaum der Gesellschaft abgibt. Wie und warum vor allem zählen die Straffälligen zur Familie Gottes? Mir fallen drei Gründe ein:

 

Erstens: Die Buntheit der Familie. Ich kenne die meisten Gefangenen, die mich um Gespräche bitten – mit Namen und Gesicht. Und gerade in der Untersuchungshaft lerne ich immer wieder neue Beschuldigte und Angeklagte kennen: Suchtkranke; Lebenslustige, die – nach der Butterseite – nun auf die Schnauze gefallen sind; dann wieder so genannte „harte“ Brüder aus dem Rotlichtmilieu; oder Prominente aus den Schlagzeilen der Medien. Viele werden an den öffentlichen Pranger gestellt. Und doch zeigt jede menschliche Begegnung ganz neue Seiten eines Familienangehörigen, wenn er oder sie sich als Person angenommen weiß.

 

Ein zweiter Grund, warum die Gefangenen wesentlich zur Familie Gottes zählen: Die biblische Tradition. Mit Jesus von Nazareth entwickelt sich eine ungeahnt große, vielfältige, wenn auch exklusive Familie. So heißt es im 3. Kapitel des Markusevangeliums (Mk. 3, 31f):

Und es kamen Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu Jesus und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.

 

Die nahen leiblichen Verwandten sind weiterhin interessiert an dem, was Jesus tut und sagt. Auch wenn sie kurz zuvor schon die Hände zusammengeschlagen haben dürften. Er sei von Sinnen, sagten sie. Er besäße einen unreinen Geist, so mutmaßten sie bereits. Aber die Herkunftsfamilie lässt nicht locker. Und es ist zu ihrem Wohl, auch wenn es zunächst abstoßend wirken mag (Mk 3,33f):

Und Jesus antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!

 

Jesus fühlt sich wohl inmitten anderer Familienmitglieder, die ihn umringen. Die Angehörigen waren nicht die leiblichen, auch nicht die hoch Angesehenen. Es sind die, die sich erkannt und begleitet wissen von einer umfassenden Liebesbotschaft.

 

Daraus erwächst für mich ein dritter Grund, warum mir die Gefangenen oft mehr familiäre Gottesheimat bieten. Unsere Familie muss, ja darf nicht geprägt sein von einer würdigen Schar Auserwählter. Freilich: Intellektuelle Vordenker dürfen am Leben der Evangelischen Kirche teilnehmen. Diakonisch Verantwortliche oder pastorale Repräsentantinnen dürfen mitreden. Rechtskundige und Wirtschaftsfachleute dürfen mit entscheiden. Den nächsten Platz hat aber nach Jesu Einladung immer diejenige, die seine Stimme hört. Genauso wie derjenige, der erst einmal ausrasten und auftanken will. In Jesu Familie gebührt allen die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben. Sie betrifft hier am Ort der Ausgrenzung ganz besonders, weil sie vom Gesetz her nicht vorgesehen ist. Sie wird unbefangen erlebt und unvermittelt aufgenommen. Mehr als bei den Betuchten, Mächtigen, Rechtskundigen oder Frommen unserer Zeit, die so wirken, als ob sie fast keiner Gnade bedürfen.

 

Ein letzter Aspekt: Vor mehr als 100 Jahren urteilte der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche über die christliche Familie: „Die Christen müssten mir erlöster aussehen.“ Ja, es gibt sie auch: die Frohen in unseren Reihen, gerade in der entsinnlichten Welt des Gefängnisses. Das Aufatmen bei den Liedern im Gottesdienst  ist spürbar. Das dankbare Strahlen der Gefangenen in all ihrer Not, die Briefe über Tränen und Erfolge später – solche Beispiele zeigen mir, dass Gottes erlöste Familie mitten unter uns lebt. Nicht in einer verdienten, menschenwürdigen Freiheit, sondern am Ort der Ungnade und Ausgrenzung. Das kann verbittern, aber es kann auch ein neues Familienbewusstsein wecken. Auf beiden Seiten der Mauern.