Zwischenruf

Sonntag, 28. 11. 2010,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Der Name, den man nicht nennt“
von Martin Schenk

 

 

Voldemort, so heißt der mächtige Zauberer, der nach Harry Potters Leben trachtet und am liebsten die ganze Welt beherrschen will. Die Bewohner der Zauberwelt wagen es gar nicht, Voldemorts Namen auszusprechen. Stattdessen sagen sie. „Er, dessen Name man nicht nennt“ oder „Du weißt schon wer“. Nur wenige, unter ihnen Harry Potter und der Direktor der Zauberschule Hogwarts, Professor Dumbledore, nennen Voldemort so wie er nun mal heißt. „Nenn ihn Voldemort“, rät ihm Dumbledore. „Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst“.

 

Unsere Angst vor der Sache hat eine Gehilfin: Die Sprache. Sie sagt zu Entlassungen „Freistellungen“, zu  Zwangsernährung in Schubhaft „Heilbehandlung“, zu Arbeitslosen „Ich-AG“, zum Kriegsministerium „Verteidigungsministerium“,  zu Pensionsminderung „Pensionssicherung“, zur Kürzung von Sozialhilfe „Erhöhung der Treffsicherheit“, zu Schutzsuchenden  „Schübling“, zur massenhaften Tötung von Menschen „Kollateralschaden“, zur Freiheitsbeschränkung für Einkommensschwache „Liberalisierung“, zu zielgerichteten Zerstörungsmaschinen „intelligente Waffensysteme“, zu Menschen im Krieg „weiche Ziele“, zu Auffanglagern für Flüchtlinge in Afrika „Begrüßungszentren“, zu Abschiebehaft „Ausreisezentrum“, zur wachsenden Schere zwischen arm und reich bloß „Unterschicht“, zur Belastung Ärmerer „notwendige Anpassungen“, zur erfreulichen längeren Lebenserwartung „Überalterung“. Das Absacken von Aktienkursen heißt „Gewinnwarnung“, die Schließung von Postämtern oder Reduzierung von Dienstleistungen in strukturschwachen Regionen heißt „Angebotsoptimierung“, Niedriglöhne, von denen niemand leben kann, heißt „Differenzierung der Lohnstrukturen“, Verschlechterungen und Rückschritte heißen neuerdings „Reform“. Zu Lohnkürzungen soll man jetzt sagen: „Juchuh, mein Gehalt wurde gerade reformiert“. Und dann die Märkte. Die sind immer schlecht aufgelegt. Einmal sind die Märkte nervös, dann sind die Märkte misstrauisch, dann abwartend. Die Märkte ächzen, die Märkte sind verstört, die Märkte sind irritiert. Wären die Märkte in die Diakonie Beratung gekommen, wir hätten schon früher, längst vor der Krise, geraten etwas zu ändern, dass das nicht gut geht mit ihnen, so nervös, dass man da zusammenbricht.

 

Und noch ein Falschwort: Die Weigerung, die großen Lebensrisiken wie Alter, Krankheit, Erwerbslosigkeit, Pflege auch für die Schwächeren abzusichern, heißt „Eigenverantwortung“; dass Frauen bei der Pflege der Oma alleingelassen werden, heißt „schlanker Staat“. Ein bedeutendes Falschwort, das aus dem Englischen richtig übersetzt eigentlich „Magerstaat“ heißt. Klingt schon weniger sexy.  

 

Der Rabbi aus Nazareth, sieht das ähnlich mit den Falschwörtern. „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein“, sagt Jesus. Da gings ums Schwören, ums hundertmal beteuern, ums herum und drüber, ums  klein und groß reden. Sagt, was Sache ist.

 

Unsere Angst vor der Sache und die Interessen der Mächtigen haben dieselbe Gehilfin: Die Sprache. Harry Potter lesen zahlt sich aus. Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst. Der erste Schritt dem Überwältigenden, Beängstigenden, Beherrschenden, Unfreimachenden ein wenig seiner Macht zu nehmen, besteht darin, es beim richtigen Namen zu nennen.