Zwischenruf

Sonntag, 18. 09. 2011,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Ulrich H. J. Körtner

 

 

„Alternativlos“ hieß das Unwort des Jahres 2010, das alljährlich von der Gesellschaft für deutsche Sprache gekürt wird. Ob Eurokrise oder Wirtschaftspolitik: Ständig wollen Politikerinnen und Politiker der Bevölkerung weismachen, es gäbe zu dem von ihnen eingeschlagenen Weg keine Alternative. Wo es keine Alternativen gibt, erübrigt sich jede weitere Diskussion. Wer kritisch nach Begründungen fragt und Argumente verlangt, bekommt keine Antwort oder wird wie ein dummes Kind behandelt, das die großen Zusammenhänge nicht durchschaut und den Ernst der Lage nicht begreifen will. Das Wort „alternativlos“ ist ein echter Diskussionskiller und dient der Einschüchterung des politischen Gegners. Politiker, die behaupten, ihre Politik sei alternativlos, demonstrieren Entschlusskraft und Führungsstärke. Sie verlangen Gefolgschaft und Ende der Debatte, glauben sie doch, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben.

 

Die Gegenreaktionen lassen freilich nicht auf sich warten. Sie äußern sich in Gestalt von Politikverdrossenheit und Wutbürgertum, aber auch im Erstarken von populistischen Parteien und politischen Rattenfängern, die dem frustrierten Volk für die komplexen Probleme der Welt ganz einfache Lösungen versprechen, an die sie vermutlich nicht einmal selbst wirklich glauben.

 

Die Welt wird von globalen Krisen erschüttert, die tatsächlich in einer Katastrophe enden können. Aktionismus und angebliche Alternativlosigkeit weisen jedoch nicht den Weg aus der Gefahr, sondern sind eine ihrer Quellen. Nach landläufiger Vorstellung besteht die Katastrophe darin, dass es nicht mehr weiter geht. Doch wie der Philosoph Walter Benjamin notiert hat, besteht die permanente Katastrophe, die Katastrophalität des Alltags darin, dass alles immer so weitergeht. Für Benjamin ist der Fortschritt die wahre Katastrophe und die Katastrophe der Fortschritt. „Der Begriff des Fortschritts“, so schrieb er 1938/39, „ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter’ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“

 

In seiner „Kritik der politischen Kinetik“ vertritt der Philosoph Peter Sloterdijk die These, das ständige In-Bewegung-Sein kennzeichne die Moderne. Doch die Bewegung wird zum Selbstzweck und kennt kein Ziel. Mobilität ist geradezu eine moderne Ersatzreligion. Jogging und Marathonläufe sind ihre säkularen Rituale. „Running on empty“ – „Ins Leere laufend“, heißt ein Song von Jackson Browne, der zum Soundtrack des vielfach ausgezeichneten Films „Forrest Gump“ gehört. Der gleichnamige Titelheld, ein einfältiger junger Mann, wird im Verlauf der Handlung unter anderem ungewollt zum Erfinder des Joggens.

 

Wer unbeirrt immer weiter rennt, mag konsequent sein. Aber Konsequenz ist noch kein Ausweis von Weisheit und Verstand. Nicht mehr aufhören und innehalten zu können, weil Stillstand angeblich Rückgang bedeutet, ist ein Fluch.

 

Als sie gefragt wurde, weshalb sie keine Gedichte mehr schreibe, antwortete Ingeborg Bachmann: „Aufhören ist eine Stärke, nicht eine Schwäche.“ Was unserer Gesellschaft nottut, ist die Kunst des Aufhörens, wie die Soziologin Marianne Gronemeyer schreibt. 

 

Ein Grundwort im Neuen Testament heißt nicht Alternativlosigkeit, sondern Umkehr, Metanoia. „Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“, lautet die Botschaft Jesu von Nazareth. Die Evangelien erzählen uns von Menschen, die in der Begegnung mit ihm die Freiheit zur Umkehr fanden und ihr Leben radikal geändert haben. Nicht das unbeirrte Weitermachen, sondern das aufhören Können beweist wahre Stärke und ist Ausdruck einer großen inneren Freiheit. Alternativlos ist einzig der Tod und Alternativlosigkeit eine tödliche Ideologie.