ZwischenrufSonntag, 20. 11. 2011, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Ulrich H. J. Körtner
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht etwa nur als frei Sein von Krankheit und Gebrechen. Positiv an dieser Bestimmung ist, dass sie die psychische und soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit berücksichtigt und das Verständnis von Krankheit nicht nur auf allfällige Funktionsstörungen des menschlichen Organismus zu reduzieren. Doch das Ideal des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens schießt über das Ziel hinaus. Gemessen an dieser Definition dürfte es wohl keinen Menschen auf der Welt geben, der wirklich gesund ist. Wenn aber jede Beeinträchtigung unseres Wohlbefindens schon als Krankheit zu verstehen ist, dann kann man zugespitzt sagen: diese Gesundheitsdefinition macht krank.
Je umfassender und „ganzheitlicher“ Gesundheit definiert wird, desto größer die Zahl derer, deren Gesundheitszustand diesem Kriterium nicht genügt. Kein Wunder, dass eine auf Gesundheit als höchstes Gut programmierte Gesellschaft nicht etwa immer gesünder, sondern immer kränker wird. Die schädlichen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Folgen lassen sich am Unwesen der Frühpensionierungen studieren, das die österreichische Politik bis heute nicht in den Griff bekommen hat.
In seinem Buch „Die Krankheitserfinder“ (Fischer Taschenbuch) kritisiert der Medizinjournalist Jörg Blech, wie Gesunde von einer medizinisch-pharmazeutischen Allianz zu Patienten gemacht werden. Natürliche Vorgänge wie das Altern und Befindlichkeitsstörungen werden zu behandlungsbedürftigen Krankheiten erklärt. Auch die Gesundheitsprävention, so wünschenswert eine gesunde Lebensweise grundsätzlich ist, bietet ein reiches Betätigungs- und Geschäftsfeld. Mögliche Gesundheitsrisiken werden uns als Krankheiten verkauft. Man denke nur an erhöhte Cholesterinwerte oder an Gentests im Internet, die nicht selten ein lukratives Geschäft mit der Angst betreiben. Was wir meines Erachtens nach dringend brauchen, ist ein Begriff von Nicht-Krankheiten.
Eine Gesellschaft, die nach der Maxime „Hauptsache gesund!“ lebt, ist insgesamt krank. Ihre Krankheit ist ein Hinweis auf Transzendenzverlust. In einer Gesellschaft, die den Glauben an ein Jenseits verloren hat, wird das Leben zur letzten Gelegenheit und Gesundheit zur neuen Religion des Diesseits. Gesundheit wird nicht nur zum individuellen Recht, sondern auch zur höchsten Pflicht.
Welch absurden Folgen das hat, zeigt das Beispiel Dänemarks. Dort hat man jüngst eine Fettsteuer eingeführt. Begründung: Nach Berechnungen einer Gesundheitskommission ließe sich die Lebenserwartung der Dänen bei fettarmer Ernährung um drei Jahre steigern.
Wer früher stirbt, ist nicht nur länger tot, sondern verstößt gegen eine gesellschaftliche Norm. Eine salutokorrekte Gesellschaft, die das Heil im Diesseits sucht, nimmt totalitäre Züge an. Gesundheit wird zur ersten Bürgerpflicht. Dem lässt sich nur gegensteuern, wenn das utopische Gesundheitsideal ideologiekritisch in Frage gestellt wird.
Gesundheit, so der Mediziner und Theologe Dietrich Rössler, ist nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben. Eine Medizin, die diesem Grundsatz folgt, widersteht der Versuchung, das Ethos des Heilens mit einem kategorischen Imperativ zu verwechseln. Bisweilen ist der Verzicht auf Therapie humaner als der Versuch, um jeden Preis einen Heilungserfolg zu erzielen. Diese Illusion kann für unheilbar Kranke inhumane Folgen haben. Eine Krankheit haben bedeutet nicht unbedingt, krank zu sein oder sich krank zu fühlen. Human ist eine Medizin, die uns dabei hilft, mit Krankheit zu leben, ohne uns krank zu machen.
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