Zwischenruf

Sonntag, 24. 06. 2012,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

„Die zehn großen Freiheiten“ - Warum die biblischen Gebote mehr sind als Appelle an Anständigkeit und Moral
von Pfarrer Mag. Roland Werneck (Wels)

 

 

Ich muss gestehen, ich habe langsam den Überblick verloren. Als aufmerksamer Beobachter der tagespolitischen Ereignisse verfolgte ich am Beginn des parlamentarischen Untersuchungsausschusses noch genau die Themen, die dort verhandelt wurden. Vor einem halben Jahr  war in der medialen Berichterstattung die Empörung über die Verhaltensweisen so mancher Politiker und Wirtschaftskapitäne groß.  Inzwischen  wurde untersucht, wer wen angefüttert oder zur Jagd eingeladen hat, wie viel Geld eingesetzt wurde, um bestimmte Personen,  Interessen und Parteien in ein positives Licht zu rücken.
Die  Verflechtungen  und Verfilzungen sind für mich nicht mehr durchschaubar.

 

Klar ist, da wurden Grenzen überschritten. Das Vertrauen vieler Menschen darauf, dass die gewählten Politiker und Politikerinnen in erster Linie das Gemeinwohl im Blick haben,  ist schwer erschüttert. Wenn ich in der Schule mit Jugendlichen darüber spreche, sagen mir die meisten, von der Politik erwarten sie sich nichts, was für ihr Leben hilfreich sein könnte.

 

Manche Politiker versuchen, auf diesen Vertrauensschwund zu reagieren.
Ein neuer Verhaltenskodex wird entwickelt, ein Ethikrat installiert, Seminare zur Verpflichtung gemacht, wo Politiker lernen sollen, was sich gehört und was nicht.  Es geht um ein Fundament aus Werten, um Anstand, Ehrlichkeit, Fleiß.


Wenn ein traditionell christliches Publikum angesprochen werden soll, berufen sich Politiker gerne auch auf die zehn Gebote.


Immer, wenn das passiert, werde ich hellhörig.  Gerne würde ich dann nachfragen: Um welche Gebote geht es Ihnen konkret und wie verstehen Sie diese? Was ist Ihnen an den zehn Geboten wichtig?


Am liebsten würde ich den Politikern und Politikerinnen empfehlen, einmal dort nachzulesen, woher die zehn Gebote stammen, nämlich in dem Teil der Bibel, den die Christen meistens das „Alte Testament“ nennen.


Wer das wirklich tut, wird überrascht sein. In der Bibel sind die zehn Gebote nämlich Teil einer Befreiungsgeschichte. Das ist kein Appell an Sitte und Anstand.  Am Anfang steht  eine visionäre Zusage: „Ich bin ein  Gott, der für Dich da ist. Ich habe dich aus der Sklaverei befreit.“ Das ist die Überschrift.  Und daraus abgeleitet wird ein göttliches Versprechen. Das lautet so: Weil ich Dich auf dem Weg des gemeinsamen  Lebens in Frieden und Gerechtigkeit begleiten will, gilt für Dich in Zukunft: Du wirst in Freiheit leben. Die so genannten zehn Gebote werden so zu zehn großen Freiheitszusagen.

 

Der evangelische Pfarrer Ernst Lange hat das 1. Gebot schon vor mehr als fünfzig Jahren so übersetzt:

 

Ich bin der Herr, dein Gott. Du wirst frei sein von allen Mächten, die sich zum Herrn über dich erheben wollen: Sei es die Macht des Geldes, der öffentlichen Meinung oder der Angst vor den Unabwägbarkeiten des Lebens.

 

Ich finde das immer wieder erstaunlich!
Die wichtigste Aussage der 10 Gebote  kann also so zusammengefasst werden:


Die Bindung an diesen einen Gott befreit von allen anderen Abhängigkeiten.


Wer sich von diesem einen Gott begleiten lässt, braucht sich nicht mehr anderen Göttern unterwerfen.


Viele schielen in diesen Tagen nach den Börsenkursen, die spannende Frage lautet: Wie reagieren die Märkte auf das Wahlergebnis in Griechenland?


Ich habe manchmal den Eindruck, die sogenannten Märkte haben in unserer Gesellschaft den Platz eingenommen, den in biblischen Zeiten die Götter hatten. Die anonymen Märkte sprechen ein Urteil und die Welt muss sich unterwerfen.


Wer in der Bibel nachliest, braucht sich nicht darüber aufregen.  Der eine Gott entzaubert die anderen Götter.  Der eine Gott nennt sich „Ich bin für Dich da“.

 

Die Götterdämmerung hat längst begonnen.  Die 10 Gebote führen  in die Freiheit von Abhängigkeiten und Ängsten.  Ich bin davon überzeugt: diese Botschaft ist weit kraftvoller als alle Appelle an Anständigkeit und Moral.