"Ein Text von Jean Vanier"

Selbst die Vereinigung in der Ehe ist niemals ganz vollständig. Es gibt immer Unzulänglichkeiten, die davon herrühren, dass die beiden Ehegatten Außenstehende füreinander bleiben: das letzte Geheimnis des anderen, der eigentliche Personenkern, wird ihnen immer unerreichbar bleiben. Eine vollständige gegenseitige Transparenz wird immer unmöglich sein. Angst und Egoismus bleiben niemand erspart.

Wir rühren hier an das Geheimnis des menschlichen Herzens, das verletzlich ist, das nach Liebe und nach Gegenwart hungert - und nach Unendlichkeit. Der Mensch lebt in ständiger Sehnsucht nach dem Unendlichen: er hungert nach Erfüllung, möchte immer der einzige sein, frei, liebenswert und liebesfähig... Aber diese Sehnsucht nach dem Unendlichen ist nur die eine Seite: der Mensch ist ebenso leicht zu verführen, voller Machtstreben, immer auf der Suche nach Anerkennung durch alle möglichen Illusionen, ja ebenso fähig, andere zu hassen. Wir hungern nach dem Unendlichen, aber in gebrechlichen Gefäßen...

Und das menschliche Herz scheint so sehr an die Sexualität gebunden. Die Suche nach Liebe scheint gebunden an das Verlangen, anderen das Leben zu geben. Die Liebe einschließlich der Sexualität, die dazugehört, scheint das Geheimnis des Menschen zu sein. Sie ist eine besondere Frucht am Baum des Lebens. Eine Frucht ohne Baum aber ist eine Illusion. Darum gehören zur Liebe die Kraft, die Struktur und die Einwurzelung eines Menschen in einen Mutterboden. Zur Liebe gehört, sich einander hingeben zu können - und zu zweit für andere da zu sein. Und um nicht der Lüge und der Illusion zu verfallen, gehört zur Liebe auch die Treue zu dem Bund, den man einging.

Die Sehnsucht nach Vereinigung und Fruchtbarkeit ist tief im Menschen verwurzelt. Sie ist Abbild Gottes, denn Gott ist Liebe und Fruchtbarkeit. Diese Sehnsucht hat also etwas Heiliges. Damit Vereinigung und Fruchtbarkeit harmonische Wirklichkeiten werden können, bedarf es der Treue und der Wahrheit - und der Kraft Gottes. Dieses Heilige in Mann und Frau, das sie dem dreieinigen Gott ähnlich werden lässt, kann freilich gänzlich entwürdigt werden, wenn man es nur als Suche nach Lustgewinn lebt und in der Ablehnung ständiger Beziehung und jeglicher Fruchtbarkeit. Aristoteles sagt, die Korruption des Schönsten ist das Schlimmste, was es gibt. Das aber geschieht in der Liebe, die sich nicht geben will, sondern immer nur nehmen.

Solange es Menschen gibt, wird es auch Unzufriedenheit geben. Auf dieser Erde wird niemand die vollkommene Ekstase und Erfüllung erleben können. Diese werden immer vergänglich bleiben - wie Gaben in verletzbare Herzen gesenkt. Noch die vollkommenste Liebe endet in der Trennung, denn der Tod ist ein Teil unseres körperlichen Lebens. Um diesen Tod recht aufzunehmen, oder die Liebe in einem sterblichen Körper recht zu leben, bedarf es des Vertrauens, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Jenseits der Trennung bleibt jene unsichtbare Einheit, die ihre Vollendung erst nach dem Tode findet, wenn unsere sterblichen Leiber leibhaftig auferstehen, um teilzuhaben an der Herrlichkeit Gottes.

Aus: "Quellen geistlichen Lebens", Band 4, Matthias Grünewald Verlag

 

 

 

Pfeil zum Seitenanfang Seitenanfang  Pfeil zum Seitenanfang weitere News

 

Letztes Update dieser Seite am  24.09.2002 um 11:32