Das Evangelische Wort
Sonntag 15. 7. 2001, 6.55 Uhr - 7.00
Uhr, Radio Österreich 1
von Pfarrer Lutz Lehmann aus Klagenfurt
Jesaja 54, 2
Mache den Raum deines Zeltes weit und breite
aus die Decken deiner Wohnstatt, spare nicht.
Spanne deine Seile lang und stecke deine Pflöcke
fest.
Es gibt Zeiten, da tut es mir unheimlich gut, mein
Haus, meine festen vier Wände zu verlassen und
alle ihre Annehmlichkeiten und Sicherheiten gegen
etwas Anderes einzutauschen: gegen die Offenheit
und Ungebundenheit meines Zeltes. Im Grunde sind
es ja gar nicht so viele Dinge, die ich zum Leben
wirklich brauche - und je leichter der Rucksack ist,
den ich mit mir trage, desto mehr von dem Neuen das
ich sehe, hat Platz. Und wenn ich dann die schönste
Stelle gefunden habe, wird aus dem kleinen Bündel
aus Glasfiberstäben und Nylon in kürzester Zeit ein
Raum - Schutz vor Regen, Dach über dem Kopf für
die Nacht.
"Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus
die Decken deiner Wohnstatt ..." - ich habe den Text
des Propheten Jesaja so gern, weil er mich an dieses
Gefühl erinnert: daran, dass ich die Möglichkeit habe,
aus dem Gewohnten aufzustehen, Plätze zu suchen,
an denen ich noch nie war oder Orte wiederzufinden,
die ich schon fast vergessen hatte vor lauter Sorge um
Sicherheit. Und nicht nur Orte hatte ich schon fast
vergessen, sondern auch meine Möglichkeit, bisweilen
auf etwas anderes zu achten, als nur auf meinen
persönlichen Vorteil: "Mache den Raum deines Zeltes
weit ..." - nicht nur Landschaften und Naturschönheiten
kann ich besser sehen. Aus der weitgeöffneten Zeltplane
sehe ich auch fremde Menschen, andere Arten zu leben
neu, höre auf, mich selbst für das Wichtigste auf der Welt
zu halten - und auf einmal kommen mir die Leute, die alles
Fremde schlecht machen, nur noch lächerlich vor.
Und ich beginne mich daran zu erinnern, dass die
Offenheit für Andere, die Weite des Geistes und des
Herzens eine uralte Überlebenstechnik ist: "Wer damals
mit seinem Zelt in der Wüste unterwegs war, dem war das
Gastrecht heilig - denn wie leicht konnte er selbst in eine
Lage kommen, in der die offene Tür, in der das
zurückgeschlagene ZeIttuch letzte Rettung und Zuflucht
sein würde.
"Mache den Raum deines Zeltes weit ..." - in dem Vers von
Jesaja geht es nicht um das Zelt nur für mich allein, sondern
darum, dass der Gott, der die Welt und die Menschen in all
ihrer Vielfalt und Verschiedenheit geschaffen hat, uns diese
Weite erleben lassen will.
Vielleicht denkt Jesaja sogar an ein großes Festzelt bei
seinem Text - und wer bei dem Fest, das er ausrichtet
spart, wer auch da immer nur die ganz bekannten Gesichter
um sich sehen will, der verdirbt nicht nur den anderen,
sondern auch sich selbst die Freude. Wer bei dem Fest nur
Hausmannskost serviert haben will, dem geht eine ganze
Welt von Geschmack und Geruch verloren und wer nur Wiener
Walzer tanzen will beim Fest, enthält sich selbst eine Wolke
von Rhythmen und Klängen vor.
"Mache den Raum deines Zeltes weit , spanne deine Seile
lang und stecke deine Pflöcke fest." Noch einen Satz Bilder,
noch ein Gleichnis hält Jesaja in seinem Text bereit: Ich
werde ohne einige Fixpunkte nicht auskommen beim Bau
meines Zeltes, bei der Einrichtung meines Lebens. Für mich
als Christ sind das zum Beispiel Nächstenliebe und Offenheit
und das beständige Eintreten für diejenigen, die unter Unrecht
leiden. An diesen Zeltpflöcken will ich nicht rütteln lassen. Und:
nur mit langen Seilen, mit weitgespannten Gedanken kann das
Zelt meines Lebens Raum bieten für mich und Andere. Nur dann
kann es sicher stehen, nur dann kann ich nachspannen, wenn
der Sturm kommt oder locker lassen, die Plane zurückschlagen,
damit der Wind mich kühlen kann in der Hitze. Nur dann kann ich
prüfen, was andere mir einreden wollen, anstatt irgendwelchen
Unfug nachzuplappern. Nur dann kann ich der Zukunft gespannt
und mit Plänen entgegensehen, anstatt mir Angst machen zu
lassen.
"Mache den Raum deines Zeltes weit ..." - Vielleicht gehen
Sie
ja zelten in diesem Sommer. Wenn dem so ist, dann wünsche
ich Ihnen, dass Sie ganz viele neue Bilder mit nach Hause bringen.
Und wenn nicht: betrachten Sie doch das, was Ihnen hier bei uns
als fremd erscheint und ungewohnt, einmal mit ganz neuen Augen.
Letztes Update dieser Seite am 16.07.2001 um 11:58