Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
Prof. Susanne Heine
Dienstag, 17.4.2001
"Keim einer neuen Welt"
Mittwoch, 18.4.2001
"Hase mit Engel"
"Schau", sagte Anja, "das ist dein Osterhase", und sie
überreichte der Mutter stolz ihre Zeichnung.
Der Mutter verschlug es die Sprache. Auf das Papier
war mit unbeholfener Hand ein Grab gekritzelt und ein
Engel mit Flügeln. So weit so gut biblisch. Aber mitten in
dieser Szene hockte ein Hase neben einem roten Ei,
worauf Anja ihre ganze Malkunst gewendet hatte.
Was macht man da, wenn Kinder alle Geschichten
durcheinander bringen und Osterhasen und Ostereier in
das Grab Christi verlegen?, dachte die Mutter ratlos.
Soll ich Anja darüber belehren, dass von Hasen und
Eiern nichts in der Bibel steht, und sie damit kränken?
Da kam der Mutter der erleuchtende Gedanke. Warum
die Hasen zu Ostern? Weil Frühjahr ist und die Hasen
sich schrecklich vermehren. Und warum die Eier zu
Ostern? Weil daraus bald die Küken schlüpfen.
Fruchtbarkeit, neues Leben überall, die Todesstarre
des Winters vorbei! Eine göttliche Schöpferkraft, die
sich Bahn bricht. Wenn das nicht zur Auferstehung in ein
neues Leben passt. Warum also sollte die Natur nicht
dazu taugen, auf ein anderes als das irdische Leben zu
verweisen? Wer weiß schon, was uns erwartet, wenn wir
einmal gestorben sind, dachte die Mutter. Wir kriechen
auf der Erde herum und deshalb fehlt uns für den Himmel
die Vorstellungskraft. Aber wir können schon hier eine
Freude am Leben haben wie ein Kind, das alles
zusammenträgt, was es liebt und vielleicht im Innersten
seiner Seele auch hofft – ausgedrückt durch Symbole
eines Lebens in Fülle.
Die Mutter behielt ihre Gedanken für sich, denn Anja würde
sie nicht verstehen. Aber sie konnte sich nun ohne
Vorbehalt freuen über den Osterhasen, der auf dem
Grab Christi hockt. Und zu Anja sagte sie: "Danke. Das
ist ein schönes Bild – hier ist das ganze Leben
versammelt."
Donnerstag, 19.4.2001
"Kleiner Vorgeschmack"
"Wieso ist der da hinaufgeklettert?", fragte Anja völlig
unvermittelt und stürzte ihre Mutter zunächst in Ratlosigkeit.
Da begann der Mutter zu dämmern, was Anja meinen
könnte. Das kommt davon, weil wir so selten in die Kirche
gehen, dachte sie etwas zerknirscht, zu Weihnachten, zu
Ostern, aber sonst? Dann wird das Kind von Dingen
beeindruckt einfach deshalb, weil sie neu und
ungewöhnlich sind wie der Christus am Kreuz über dem
Altar. Und die Mutter begann zu erläutern, dass Christus
nicht freiwillig hinaufgeklettert und noch dazu wieder
auferstanden ist. "Das glaube ich nicht", lautete Anjas
Kurzkommentar.
Eigentlich, dachte die Mutter, kann ich das selbst nicht
glauben. Was für ein Unterschied doch zwischen einer
Lehre und der eigenen Erfahrung besteht! Ich bin wie der
sprichwörtliche ungläubige Thomas und hätte gerne
Beweise. Würde der Auferstandene jetzt vor mir stehen,
und ich könnte ihn wie Thomas mit meinen Händen
berühren, das wäre was. Dabei ging es ihr gar nicht um
handgreifliche Beweise, sondern um einen Beweis der
Wirkung des göttlichen Geistes hier und jetzt. Sie begann
sich nach einem menschlichen Wesen mit einer
spirituellen Ausstrahlung zu sehnen. Sie wollte nicht
darüber belehrt werden, was sie glauben müsse, sondern
erleben, wie der Glaube einen Menschen verwandelt, wie
er jemanden, der am Leben verzweifelt, zu neuem Leben
erweckt.
Ich verzweifle zwar nicht am Leben, dachte die Mutter,
aber ich fühle mich wie eine Eintagsfliege. Ich lebe von
einem Tag auf den anderen, und ein Tag sieht wie der
andere aus. Da müsste doch einmal etwas passieren,
etwas, das mir hier und jetzt schon einen kleinen
Vorgeschmack von dem geben könnte, was uns nach
unserem Ende erwarten soll.
"Einmal", sagte die Mutter zu Anja, "wird dir ein Mensch
begegnen, der innerlich tot war und wieder lebendig
wurde." Aber die ungläubigen Augen ihres Kindes
machten der Mutter bewusst, dass sie beide zusammen
noch auf diesen Augenblick warteten.
Freitag, 20.4.2001
"Himmlisches Kleid"
"Da war ich drin?", fragte Anja erstaunt und schaute
ungläubig auf das winzige Kleid, in dem sie getauft worden
war.
Anjas Taufe, das war so eine Sache: erst der Streit in der
Familie, ob sie überhaupt getauft werden sollte; dann in
der Kirche ein schreiendes Bündel in weißen Spitzen, was
die Verwandtschaft als böses Omen deutete; schließlich
ein Essen im Gasthaus mit aufmunternden Sprüchen, sie
und ihr Mann sollten doch noch versuchen, einen Sohn in
die Welt zu setzen.
Ich habe mir eine Taufe wirklich anders vorgestellt, dachte
die Mutter und ihr kam in den Sinn, dass das in alten
Zeiten ein großes Fest gewesen war. Was einmal als
Stoff in der Schule durchgenommen wurde, verwandelte
sich plötzlich in eine lebendige Szene. Sie sah das erste
Licht nach der Osternacht heraufdämmern, sah die
erwachsenen Täuflinge in weißen Kleidern und ergriffenen
Mienen, hörte die Lieder und spürte die Kraft der
Segenswünsche. Sie sah die Menschen im Wasser
untertauchen und als neue Menschen aus dem Taufbecken
steigen.
Neu werden ...; dieser Gedanke begann sie zu
beschäftigen. Was könnte das heißen, fragte sich die
Mutter, in einem Leben, das doch darauf hinausläuft,
dass wir alt werden? Verändert sich durch eine Taufe
unser inneres Wesen oder bleiben wir nicht doch die alten
Wirrköpfe, getrieben von Gefühlen und festgenagelt auf die
eigenen Bedürfnisse? Da wendete sich ihr innerer Blick
noch einmal, und ihr erschien die Taufe wie das Abbild einer
himmlischen Szene, die es schon immer gegeben hat und
geben wird und die dem schwankenden Gang der
Geschichte wie ein beständiges Siegel eingeprägt ist.
Vielleicht, dachte die Mutter, kommt es auf mich an, darauf,
dass ich die Dinge neu sehe, und gar nicht so sehr darauf,
dass sich viel Neues tut. Und zu Anja sagte sie: "Aus diesem
Kleid bist du rausgewachsen, aber das himmlische Kleid
wird dir ewig bleiben."
Samstag, 21.4.2001
"Ein Entwurf"
"Blödes Ostern", schrie Anja, warf sich mitten im Supermarkt
auf den Boden, strampelte mit den Füßen und ließ ihrer Wut
freien Lauf.
Die Mutter versuchte sie zu beruhigen. Aber es blieb ihr
nichts anderes übrig, als das strampelnde Ungeheuer
hinauszuziehen und ins Auto zu laden, wo Anjas Wut in
verzweifeltes Schluchzen überging. Und das alles nur, weil
sie sich geweigert hatte, Anja die Barbie-Puppe zu kaufen
mit dem Argument, Ostern sei ja schließlich vorbei.
Gier und Wut – was für Gewalten, die da in einem Menschen
stecken und kaum zu bändigen sind, dachte die Mutter und
fühlte nun auch in sich selbst die Wut auf Anja aufsteigen.
Das verzerrte Gesicht ihres Kindes hatte ihr auch Angst
eingeflößt und sie an das Gesicht gewalttätiger Menschen
erinnert, wenn sie diese auch nur aus dem Fernsehen
kannte. Da war nichts mehr von menschlicher Würde zu
sehen, die unverlierbar ist – angeblich, dachte sie bitter.
Plötzlich tauchte vor ihrem inneren Auge ein anderes
Gesicht auf: das des Gekreuzigten. Sie versuchte sich
den liebevollen und nachsichtigen Blick vorzustellen, mit
dem er sogar die Gewalttäter angeschaut hatte, die ihn zu
Tode brachten, und wie er ihnen damit eine unverdiente
Würde verlieh. Konnte das ein anderer Blick sein als der
des auferstandenen Christus? Da kam ihr dieser Christus
wie ein Bild wahrer Menschlichkeit vor, das Gott von uns
entworfen hat. Ob es möglich ist, dass wir aus so einem
Entwurf ein fertiges Bild gestalten?, fragte sich die Mutter.
Und zugleich wurde ihr klar, dass uns dazu erst einmal
jemand so anschauen muss, als wären wir schon das,
was aus uns einmal werden soll.
"Du stirbst nicht, wenn du keine Barbie-Puppe
bekommst", sagte die Mutter zu Anja. Aber sie konnte
diesen strengen Satz so liebevoll sagen, dass Anja
lachen musste.
Letztes Update dieser Seite am 17.04.2001 um 14:19