Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
Peter Henisch "Von der Terrasse"
Montag, 23. April 2001
Dienstag, 24. April 2001
Noch früher heute erwacht, mit Amselgezwitscher. Mit
dem Scheppern der Kirchenglocken, dem Jagdgeschrei
der Schwalben. Ich stehe auf und sehe, wie der Schatten
dem Licht weicht. Wie die Mauer sich rosa färbt, eine
Ahnung von Sonne auf der Glyzinienhecke, den
Steineichen im Park.
Mit einem ersten Schluck Wasser beginnt der Tag sehr
klar und kühl. Ich spüre, wie es in mir hinunter rinnt, vom Mund
in die Kehle. Die Feuchtigkeit, die sich in die Haare zieht, ich
fühle sie im Nacken, im Rücken. Da ist es besser, noch eine
Decke aus dem Schlafzimmer zu holen und sich einzuhüllen.
Noch steht der Mond am Himmel, ein schmales, weißes
Segel im Blassblau. Aber die Sonne lässt schon die
Fernsehantennen aufglitzern, an denen der Tau hängt. Jenseits
der Mauer ein letztes Aufheulen der Hunde in ihren Zwingern.
Der erste Kondensstreifen erscheint. Das Flugzeug davor,
ein Funke.
Einmal habe ich gelesen, dass eine Sonde Wasser auf dem
Mars entdeckt hat, ein anderes Mal, dass der Code des
Menschen entschlüsselt ist. Das war vorgestern. Oder war es
erst gestern? Eine Elster fliegt auf, eine Taube geht auf
Sendung, eine andere antwortet. Morgen steht die Welt
wahrscheinlich noch immer.
Dunst erhebt sich. Der Mars war schön in der Zeitung. Eine
Wüstenlandschaft mit in den Sand gestreuten Felsbrocken.
Ungefähr so rot wie die Ziegelmauern und die Dächer, auf die
ich hier schaue. Aber sehr kalt, wie es heißt. Die Sonne
erreicht den Dachfirst.
Durch die Gasse unter mir gehen zwei erste Stimmen. Die
rote Katze im Park ist auch wieder da. In einer Lichtschneise
sitzt sie, putzt sich und denkt. Ich drehe den Tisch mit der
Schreibmaschine um 90 Grad, stelle den Sessel wieder an
seine Längsseite und beginne zu schreiben.
Alles wird gut, es wird einen neuen Himmel geben und eine
neue Erde. Sogar oder speziell die Eugeniker wittern
Morgenluft: man muss sich nur von den Fixierungen auf
gewisse Verirrungen lösen. Jetzt, da man nach dem Schaf
Dolly, dem erstgeborenen unter den geklonten Tieren, auch
schon das Kalb Jefferson, zehn namenlose Mäuse und den
Stier Galileo in den Zeitungen abgebildet findet, jetzt, da man
sich einbildet, die Formel des Lebens zu kennen. Politischer
Missbrauch, schreibt einer, der daran glaubt, in einer
deutschen Zeitung wohlgemerkt, politischer Missbrauch
solchen Wissens und Könnens sei in der westlichen Welt
von heute nicht zu befürchten.
Mittwoch, 25. April 2001
Frühmorgens auf der Terrasse, es geht uns doch gut. Aber
schon früh fliegen heute die Donnervögel. Das hat jedoch,
sagt man uns, nichts zu bedeuten, kein Ernstfall. Nur Training,
daran gewöhnt man sich, mit der Zeit hört man es kaum mehr.
Vor zwei Jahren, das war etwas anderes. Das tägliche, bald
alltägliche Durchbrechen der Schallmauer. Über die Adria
brauchten die kaum eine Stunde. Und wie sie trafen, das sah
man im Fernsehen, mit zielgenauen Blitzen.
Wie die Kids in der Bar an den Videospielen. Da quietscht es
und heult es und blinkt es - die kleinen Ruhepausen, vergebliche
Hoffnungen. Das fängt immer wieder von vorn an, mit
unwiderstehlichen Appellen. Game select, insert coin, come on
baby, light my fire.
Da stehen sie oder sitzen sie vor dem Bildschirmen,
betätigen Druckknöpfe, Hebel, Tasten. Mit uns Fossilien
längst vergangener Zeiten unfassbarem Geschick. Virtuosen
außer-irdischer Keyboards. Vor den Apparaten, die sie
beherrschen, ihre Seelen in fantastischen Unter- und Überwelten.
Kommt dir einer entgegen, so schieß ihn ab. Feinde erscheinen
gepanzert, gesichtslos - Insekten. Freaks, Monster - du darfst
nicht lang überlegen, du musst schnell sein. Was soll aus dieser
Generation werden, fragt mich Achille, aber der ist ein
misanthropischer Philosoph.
Was sollen solche Gedanken so früh am Morgen. Um diese
frühe Stunde ist die Bar noch ruhig. Na also, was willst du?
Nimm deinen Cappuccino und tritt hinaus in den Garten. Da
zwitschern die Vögel. Sehen sie, sage ich zu Achille, die Welt ist
doch schön.
Und das ist wahr. Die Luft ist noch frisch um diese Zeit. Ist es
nicht eine Freude, sie einzuatmen? Auf den noch nicht
abgewischten Tischen glitzern die Tautropfen. Aus einem
offenen Fenster hört man jemanden singen.
Donnerstag, 26. April 2001
Auf der Terrasse, ach ja, noch immer, schon wieder. Unten
der Park, das Denkmal, die Bäume, die Mauer. Jenseits die
Schnellstraße auf ihren hässlichen Betonstelzen. Die alte
Straße - sich dem Rhythmus der Hügel und Mulden
anpassend, nicht sie zerstörend, liegt so gut wie unbenutzt
daneben.
Auf der neuen Straße dahinrasend, gewinnt man bis zum
von hier sichtbaren Horizont ungefähr fünf Minuten. Dann ist
das zweifelhafte Vergnügen ohnehin vorbei, die Straße muss
von ihren dummen Stelzen hinunter und ist wieder die alte. Auf
den zehn Kilometern hat man viel weniger gesehen als früher,
auf jeden Fall hat man so gut wie nichts wahr genommen. Aber
wer will das schon, wenn er im Wagen sitzt, um möglichst rasch
und effizient von da nach dort zu kommen.
Hier und da halten Touristenautos mit nervös blinkenden
Rücklichtern. Lächerlich gekleidete Menschen steigen aus und
halten Kameras zwischen sich und die Landschaft. Das ist doch
berühmt, kennst du das nicht, das siehst du in jedem Buch über
diese Gegend. Also das muss in den Kasten, ein Hundertstel
oder ein Zweihundertstel einer Sekunde haben sie es belichtet,
die Entfernung, obwohl sie scheinbar so nah dran waren, war
unendlich.
Auf der anderen Seite die Straße, die ich mit Miriam gefahren
bin. Auf dem Fahrrad. Sie war damals ein Kind von acht oder
neun Jahren. Ich stand in den Pedalen, meine Tochter, mit
baumelnden Beinen im Sattel sitzend, krallte sich in meinen
Rücken und meine Hüften. Das Rad war ein Klappergestell, den
vorderen Kotflügel, den wir sonst verloren hätten, hatten wir mit
Pfeifenputzern festgebunden.
Diese sandige, steinige Straße dort drüben. Ockergelb, wie von
Van Gogh gemalt, klettert sie den Hügel hinauf. Ich spürte
meine Waden, ich spürte meine Oberschenkel, ich spürte meine
Unterarme. Ich spürte mich wie sonst selten und ich spürte meine
Tochter hinter mir.
Oben bei Freunden tranken wir einen Schluck Limonade. Im
Badezimmer wand ich mein T-Shirt aus. Doch dann kam die
Talfahrt: Der gute Wind im Gesicht und im Herzen der
Widerspruch. Gleich wird es vorbei sein, aber jetzt ist es so weit.
Der erfüllte Augenblick - ein Stück Leben, das wir gern festhalten
würden. Dies war so eins - sehr deutlich in seiner Vergänglichkeit.
Schreiben ist ein Versuch, etwas festzuhalten. Ich weiß, ein
vergeblicher Versuch. Und doch. Und trotzdem.
Freitag, 27. April 2001
Blick nicht in den Park heute früh, sondern über die Dächer.
Unter einem dieser Dächer habe ich einen Freund, dem ist ein
Sohn gestorben. Genaugenommen war es kein Sohn sondern
ein Enkel. Aber er und seine Frau haben ihn aufgezogen wie
einen Sohn. Jetzt ist er gestorben. Mit sechzehn. An Leukämie.
Ich erinnere mich noch an den letzten Besuch bei seiner Familie.
Die Großmütter genaugenommen die Urgroßmütter, hatten gekocht.
Unser Mirko, sagten Lido und seine Frau Isa, ist bei gutem
Appetit. Dass sein Gesicht so aufgeblasen ist, sagte sein kleiner
Bruder Lorenzo, die eigenen Backen zu einer Karikatur des Älteren
aufpumpend, kommt aber nicht vom Essen. Bis kurz davor hatte er
diesen großen Bruder bewundert und wohl auch beneidet - Mirko
war einer der bestaussehenden und aussichtsreichen Ragazzi im
Ort, Stürmerstar der Fußballjugend, gerade in Kurs kommender
Schwarm der Mädchen - kaum eine Chance für einen, wenn auch
sehr aufgeweckten und pfiffigen Sechsjährigen mit Flügelohren,
so zu werden wie der. Dass Mirko jetzt aussieht wie ein Ballon,
kommt aber nicht vom vielen Essen sondern vom Cortison.
Mirko aß scheinbar gleichmütig, er sah aus und drein wie eine
Buddhastatue. Eine Buddhastatue vom fülligen Typ. Er ließ sich
noch einige Male nachreichen, sowohl von der Pasta als auch
von den Hauptspeisen. Dann stand er vom Tisch auf und
lümmelte sich vor den Fernseher.
Im Fernsehen lief irgendein Autorennen. Ich erinnere mich an
das wespenhafte Summen der Motoren. Ja, so ist das, sagte
Isa. Trinken wir noch einen Schluck Grappa, sagte Lido.
"Dio c'e", steht mit Filzstift geschrieben auf manchen
Straßenschildern vor besonders gefährlichen Kurven. Gott
existiert. Auf anderen Straßenverkehrsschildern steht "merda".
Zwei Botschaften. Man kann sich aussuchen, welche man für
wahr halten will. Für wahr halten. Wahr nehmen. Bisweilen, am
Morgen schlage ich ein Buch auf wie ein Orakel. Das kann die
Bibel sein. Manchmal erwische ich die Stelle mit dem Hauptmann
von Kapharnaum. Zu Ostern habe ich eine Stelle aus dem
Korintherbrief erwischt. Sie wissen schon: Tod, wo ist dein
Stachel usf. Diese verzweifelte Hoffnung auf Auferstehung.
Das kann auch ein Buch von, sagen wir, Nabokov sein. Einer
seiner schönsten Sätze: Wir sind Raupen von Engeln.
Samstag, 28. April 2001
Heute sitze ich auf dieser Terrasse und denke kurioserweise
an jene. Dunkles Holz, gebeizte Bretter, aus denen da und
dort das Harz austritt. In den Blumengeschirren ein halb
vertrocknetes Gemisch aus Gras, Moos, resistenten Gewürzen.
Der Tisch und die Gartenmöbel verwittert, aber Blick ins Grün.
Die große Fichte, die schöne Lärche, der kleine Apfelbaum.
Unten die Silbertanne, dort ist der Garten zu Ende. Dann der
Bach, dann geht es wieder hangaufwärts. Jenseits des Zauns.
Große Obstbäume und ein Bienenstock. Dahinter Felder und
Hügel.
Die Stimmen der Ringeltauben klingen dort so ähnlich wie hier.
Die Stimmen der Menschen klingen allerdings anders. Der
Tonfall, der Ausstoß der Wörter, andere Temperatur, anderes
Temperament. Sollte ich als heimatlich empfinden. Was soll ich
tun, wenn es mich manchmal befremdet?
Diese emsige Mentalität, diese Unfähigkeit zur Muße.
Heimkehrend in die Freizeit spuckt man sich in die Hände und
beginnt zu arbeiten. Rasenmäher, Kreissäge, elektrische
Heckenschere, Laubsauger. Wenn man nicht im Garten werkt,
stellt man ein Gerüst auf, mischt Zement und verputzt das Haus.
Kein Ziegel darf sichtbar sein, kein gewachsener Stein. Was
dort Naturstein heißt, ist meistens künstlich. Nein, es handelt
sich nicht um Max Frischs Andorra. Aber es ist doch schön,
sagen meine Freunde, doch, sage ich, natürlich, kommt uns
besuchen.
Wir können auf der anderen Hangseite in den Wald gehen, am
Altersheim vorbei. Dort drüben, jenseits der Aussichtswarte gibt
es ein kleines Haus auf dem Südhang. Es könnte von Adalbert
Stifter erfunden sein - oder nein, dazu ist es zu wenig adrett.
Aber es ist wirklich - man würde kaum glauben, dass es so
etwas in dieser Gegend noch gibt.
Dort wohnt eine alte Frau zwischen Blumen und Tieren. Früher
hatte sie über zwanzig Katzen, jetzt sind es schon einige
weniger. Aber da ist noch immer der alte Hund und da sind
die Kühe und Schafe. Die Sonne wärmt dort eher als überall
sonst in der Umgebung, an der Wand vor dem Haus stehen
zwei, drei rohe Holztische mit Bänken und Sesseln, wenn wir
Glück haben, gibt es frischen Schafskäse, und ein Stück
Kuchen und ein Glas Most gibt es so gut wie immer.
Letztes Update dieser Seite am 24.04.2001 um 11:06