Der Schriftsteller Peter Henisch

Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1

Peter Henisch "Von der Terrasse"

Montag, 23. April 2001
Frühmorgens schon auf der Terrasse. In den Park 
geschaut. Die Katze, die sich unter dem Sockel des 
Denkmals räkelt. Wie sie sich angelegentlich putzt, 
die Zunge x Mal über den weißen Brustfleck führend. 
Räkelt und wälzt sich - ob sie spürt, dass ich sie 
beobachte, ein Voyeur mit dem Feldstecher?
Eher ein Opernglas, keine besondere Vergrößerung, 
kein nennenswerter Objektivdurchmesser. Fast ein 
Scherz, und doch: Diese Konzentration des Blicks. 
So ein kleiner Ausschnitt der Welt: das braungrüne 
Gras, der gelbe Gartenschlauch. Die rote Katze: So 
ein kleines Stück Leben.
Aus dieser geheimen Nähe betrachtet ist sie schäbig, 
die Katze. Räudig anscheinend an Stellen unter den 
Augen und unter den Ohren. Und doch ist sie schön, 
wie sie jetzt aufsteht und sich streckt und dehnt. 
Rechtes Vorderbein, linkes Hinterbein, dann umgekehrt, 
Wirbelsäule elastisch wie selten bei einem Menschen.
Sieben Leben, heißt es, hat eine Katze. Dennoch, auch 
Katzen sind sterblich. Das steht bei Ionesco. Ein aus der 
Mode gekommener Autor. Und dabei so aktuell. Jenseits 
der Gartenmauer trampeln die Nashörner. Die Katze 
verschwindet durch einen Spalt in der Hecke. Hingegen 
die alte Frau mit dem deutlich abgenützten Kreuz. Sie 
kommt in mein Bild: An der Mauer entlang, die alten 
Bruchsteine wie eine Kulisse im Hintergrund. In der Mitte 
geknickt, auf einen Stock gestützt.
Ein weißer Körper, Haut, wenig Fleisch, Knochen. In 
einem schwarzen Kleid, mit durchs Waschen verblassten 
Blumen. Den Blick zu Boden gerichtet, sie kann nicht mehr 
anders. Aber dort unten liegen die vom Weichselbaum 
gefallenen Blüten.
Oberleib, Unterleib, Füße, die kleine Schritte tun. Die alte 
Frau erreicht die alte Bank unter den Steineichen und 
setzt sich. Sie beugt sich vor, bedächtig, und zieht einen 
Schuh aus. Sie hält ihn in der Hand, schaut ihn an: So 
weit ist er gegangen.

Dienstag, 24. April 2001
Noch früher heute erwacht, mit Amselgezwitscher. Mit 
dem Scheppern der Kirchenglocken, dem Jagdgeschrei 
der Schwalben. Ich stehe auf und sehe, wie der Schatten 
dem Licht weicht. Wie die Mauer sich rosa färbt, eine 
Ahnung von Sonne auf der Glyzinienhecke, den 
Steineichen im Park.
Mit einem ersten Schluck Wasser beginnt der Tag sehr 
klar und kühl. Ich spüre, wie es in mir hinunter rinnt, vom Mund 
in die Kehle. Die Feuchtigkeit, die sich in die Haare zieht, ich 
fühle sie im Nacken, im Rücken. Da ist es besser, noch eine 
Decke aus dem Schlafzimmer zu holen und sich einzuhüllen. 
Noch steht der Mond am Himmel, ein schmales, weißes 
Segel im Blassblau. Aber die Sonne lässt schon die 
Fernsehantennen aufglitzern, an denen der Tau hängt. Jenseits 
der Mauer ein letztes Aufheulen der Hunde in ihren Zwingern. 
Der erste Kondensstreifen erscheint. Das Flugzeug davor, 
ein Funke.
Einmal habe ich gelesen, dass eine Sonde Wasser auf dem 
Mars entdeckt hat, ein anderes Mal, dass der Code des 
Menschen entschlüsselt ist. Das war vorgestern. Oder war es 
erst gestern? Eine Elster fliegt auf, eine Taube geht auf 
Sendung, eine andere antwortet. Morgen steht die Welt 
wahrscheinlich noch immer.
Dunst erhebt sich. Der Mars war schön in der Zeitung. Eine 
Wüstenlandschaft mit in den Sand gestreuten Felsbrocken. 
Ungefähr so rot wie die Ziegelmauern und die Dächer, auf die 
ich hier schaue. Aber sehr kalt, wie es heißt. Die Sonne 
erreicht den Dachfirst.
Durch die Gasse unter mir gehen zwei erste Stimmen. Die 
rote Katze im Park ist auch wieder da. In einer Lichtschneise 
sitzt sie, putzt sich und denkt. Ich drehe den Tisch mit der 
Schreibmaschine um 90 Grad, stelle den Sessel wieder an 
seine Längsseite und beginne zu schreiben.
Alles wird gut, es wird einen neuen Himmel geben und eine 
neue Erde. Sogar oder speziell die Eugeniker wittern 
Morgenluft: man muss sich nur von den Fixierungen auf 
gewisse Verirrungen lösen. Jetzt, da man nach dem Schaf 
Dolly, dem erstgeborenen unter den geklonten Tieren, auch 
schon das Kalb Jefferson, zehn namenlose Mäuse und den 
Stier Galileo in den Zeitungen abgebildet findet,  jetzt, da man 
sich einbildet, die Formel des Lebens zu kennen. Politischer 
Missbrauch, schreibt einer, der daran glaubt, in einer 
deutschen Zeitung wohlgemerkt, politischer Missbrauch 
solchen Wissens und Könnens sei in der westlichen Welt 
von heute nicht zu befürchten.

Mittwoch, 25. April 2001
Frühmorgens auf der Terrasse, es geht uns doch gut. Aber 
schon früh fliegen heute die Donnervögel. Das hat jedoch, 
sagt man uns, nichts zu bedeuten, kein Ernstfall. Nur Training, 
daran gewöhnt man sich, mit der Zeit hört man es kaum mehr.
Vor zwei Jahren, das war etwas anderes. Das tägliche, bald 
alltägliche Durchbrechen der Schallmauer. Über die Adria 
brauchten die kaum eine Stunde. Und wie sie trafen, das sah 
man im Fernsehen, mit zielgenauen Blitzen.
Wie die Kids in der Bar an den Videospielen. Da quietscht es 
und heult es und blinkt es - die kleinen Ruhepausen, vergebliche 
Hoffnungen. Das fängt immer wieder von vorn an, mit 
unwiderstehlichen Appellen. Game select, insert coin, come on 
baby, light my fire.
Da stehen sie oder sitzen sie vor dem Bildschirmen, 
betätigen Druckknöpfe, Hebel, Tasten. Mit uns Fossilien 
längst vergangener Zeiten unfassbarem Geschick. Virtuosen 
außer-irdischer Keyboards. Vor den Apparaten, die sie 
beherrschen, ihre Seelen in fantastischen Unter- und Überwelten.
Kommt dir einer entgegen, so schieß ihn ab. Feinde erscheinen 
gepanzert, gesichtslos - Insekten. Freaks, Monster - du darfst 
nicht lang überlegen, du musst schnell sein. Was soll aus dieser 
Generation werden, fragt mich Achille, aber der ist ein 
misanthropischer Philosoph.
Was sollen solche Gedanken so früh am Morgen. Um diese 
frühe Stunde ist die Bar noch ruhig. Na also, was willst du? 
Nimm deinen Cappuccino und tritt hinaus in den Garten. Da 
zwitschern die Vögel. Sehen sie, sage ich zu Achille, die Welt ist 
doch schön.
Und das ist wahr. Die Luft ist noch frisch um diese Zeit. Ist es 
nicht eine Freude, sie einzuatmen? Auf den noch nicht 
abgewischten Tischen glitzern die Tautropfen. Aus einem 
offenen Fenster hört man jemanden singen.

Donnerstag, 26. April 2001
Auf der Terrasse, ach ja, noch immer, schon wieder. Unten 
der Park, das Denkmal, die Bäume, die Mauer. Jenseits die 
Schnellstraße auf ihren hässlichen Betonstelzen. Die alte 
Straße - sich dem Rhythmus der Hügel und Mulden 
anpassend, nicht sie zerstörend, liegt so gut wie unbenutzt 
daneben.
Auf der neuen Straße dahinrasend, gewinnt man bis zum 
von hier sichtbaren Horizont ungefähr fünf Minuten. Dann ist 
das zweifelhafte Vergnügen ohnehin vorbei, die Straße muss 
von ihren dummen Stelzen hinunter und ist wieder die alte. Auf 
den zehn Kilometern hat man viel weniger gesehen als früher, 
auf jeden Fall hat man so gut wie nichts wahr genommen. Aber 
wer will das schon, wenn er im Wagen sitzt, um möglichst rasch 
und effizient von da nach dort zu kommen.
Hier und da halten Touristenautos mit nervös blinkenden 
Rücklichtern. Lächerlich gekleidete Menschen steigen aus und 
halten Kameras zwischen sich und die Landschaft. Das ist doch 
berühmt, kennst du das nicht, das siehst du in jedem Buch über 
diese Gegend. Also das muss in den Kasten, ein Hundertstel 
oder ein Zweihundertstel einer Sekunde haben sie es belichtet, 
die Entfernung, obwohl sie scheinbar so nah dran waren, war 
unendlich.
Auf der anderen Seite die Straße, die ich mit Miriam gefahren 
bin. Auf dem Fahrrad. Sie war damals ein Kind von acht oder 
neun Jahren. Ich stand in den Pedalen, meine Tochter, mit 
baumelnden Beinen im Sattel sitzend, krallte sich in meinen 
Rücken und meine Hüften. Das Rad war ein Klappergestell, den 
vorderen Kotflügel, den wir sonst verloren hätten, hatten wir mit 
Pfeifenputzern festgebunden.
Diese sandige, steinige Straße dort drüben. Ockergelb, wie von 
Van Gogh gemalt, klettert sie den Hügel hinauf. Ich spürte 
meine Waden, ich spürte meine Oberschenkel, ich spürte meine 
Unterarme. Ich spürte mich wie sonst selten und ich spürte meine 
Tochter hinter mir.
Oben bei Freunden tranken wir einen Schluck Limonade. Im 
Badezimmer wand ich mein T-Shirt aus. Doch dann kam die 
Talfahrt: Der gute Wind im Gesicht und im Herzen der 
Widerspruch. Gleich wird es vorbei sein, aber jetzt ist es so weit.
Der erfüllte Augenblick - ein Stück Leben, das wir gern festhalten 
würden. Dies war so eins - sehr deutlich in seiner Vergänglichkeit. 
Schreiben ist ein Versuch, etwas festzuhalten. Ich weiß, ein 
vergeblicher Versuch. Und doch. Und trotzdem.

Freitag, 27. April 2001
Blick nicht in den Park heute früh, sondern über die Dächer. 
Unter einem dieser Dächer habe ich einen Freund, dem ist ein 
Sohn gestorben. Genaugenommen war es kein Sohn sondern 
ein Enkel. Aber er und seine Frau haben ihn aufgezogen wie 
einen Sohn. Jetzt ist er gestorben. Mit sechzehn. An Leukämie.
Ich erinnere mich noch an den letzten Besuch bei seiner Familie. 
Die Großmütter genaugenommen die Urgroßmütter, hatten gekocht.
Unser Mirko, sagten Lido und seine Frau Isa, ist bei gutem 
Appetit. Dass sein Gesicht so aufgeblasen ist, sagte sein kleiner 
Bruder Lorenzo, die eigenen Backen zu einer Karikatur des Älteren 
aufpumpend, kommt aber nicht vom Essen. Bis kurz davor hatte er 
diesen großen Bruder bewundert und wohl auch beneidet - Mirko 
war einer der bestaussehenden und aussichtsreichen Ragazzi im 
Ort, Stürmerstar der Fußballjugend, gerade in Kurs kommender 
Schwarm der Mädchen - kaum eine Chance für einen, wenn auch 
sehr aufgeweckten und pfiffigen Sechsjährigen mit Flügelohren, 
so zu werden wie der. Dass Mirko jetzt aussieht wie ein Ballon, 
kommt aber nicht vom vielen Essen sondern vom Cortison.
Mirko aß scheinbar gleichmütig, er sah aus und drein wie eine 
Buddhastatue. Eine Buddhastatue vom fülligen Typ. Er ließ sich 
noch einige Male nachreichen, sowohl von der Pasta als auch 
von den Hauptspeisen. Dann stand er vom Tisch auf und 
lümmelte sich vor den Fernseher.
Im Fernsehen lief irgendein Autorennen. Ich erinnere mich an 
das wespenhafte Summen der Motoren. Ja, so ist das, sagte 
Isa. Trinken wir noch einen Schluck Grappa, sagte Lido. 
"Dio c'e", steht mit Filzstift geschrieben auf manchen 
Straßenschildern vor besonders gefährlichen Kurven. Gott 
existiert. Auf anderen Straßenverkehrsschildern steht "merda". 
Zwei Botschaften. Man kann sich aussuchen, welche man für 
wahr halten will. Für wahr halten. Wahr nehmen. Bisweilen, am 
Morgen schlage ich ein Buch auf wie ein Orakel. Das kann die 
Bibel sein. Manchmal erwische ich die Stelle mit dem Hauptmann 
von Kapharnaum. Zu Ostern habe ich eine Stelle aus dem 
Korintherbrief erwischt. Sie wissen schon: Tod, wo ist dein 
Stachel usf. Diese verzweifelte Hoffnung auf Auferstehung. 
Das kann auch ein Buch von, sagen wir, Nabokov sein. Einer 
seiner schönsten Sätze: Wir sind Raupen von Engeln.

Samstag, 28. April 2001
Heute sitze ich auf dieser Terrasse und denke kurioserweise 
an jene. Dunkles Holz, gebeizte Bretter, aus denen da und 
dort das Harz austritt. In den Blumengeschirren ein halb 
vertrocknetes Gemisch aus Gras, Moos, resistenten Gewürzen. 
Der Tisch und die Gartenmöbel verwittert, aber Blick ins Grün. 
Die große Fichte, die schöne Lärche, der kleine Apfelbaum. 
Unten die Silbertanne, dort ist der Garten zu Ende. Dann der 
Bach, dann geht es wieder hangaufwärts. Jenseits des Zauns. 
Große Obstbäume und ein Bienenstock. Dahinter Felder und 
Hügel.
Die Stimmen der Ringeltauben klingen dort so ähnlich wie hier. 
Die Stimmen der Menschen klingen allerdings anders. Der 
Tonfall, der Ausstoß der Wörter, andere Temperatur, anderes 
Temperament. Sollte ich als heimatlich empfinden. Was soll ich 
tun, wenn es mich manchmal befremdet?
Diese emsige Mentalität, diese Unfähigkeit zur Muße. 
Heimkehrend in die Freizeit spuckt man sich in die Hände und 
beginnt zu arbeiten. Rasenmäher, Kreissäge, elektrische 
Heckenschere, Laubsauger. Wenn man nicht im Garten werkt, 
stellt man ein Gerüst auf, mischt Zement und verputzt das Haus. 
Kein Ziegel darf sichtbar sein, kein gewachsener Stein. Was 
dort Naturstein heißt, ist meistens künstlich. Nein, es handelt 
sich nicht um Max Frischs Andorra. Aber es ist doch schön, 
sagen meine Freunde, doch, sage ich, natürlich, kommt uns 
besuchen.
Wir können auf der anderen Hangseite in den Wald gehen, am 
Altersheim vorbei. Dort drüben, jenseits der Aussichtswarte gibt 
es ein kleines Haus auf dem Südhang. Es könnte von Adalbert 
Stifter erfunden sein - oder nein, dazu ist es zu wenig adrett. 
Aber es ist wirklich - man würde kaum glauben, dass es so 
etwas in dieser Gegend noch gibt.
Dort wohnt eine alte Frau zwischen Blumen und Tieren. Früher 
hatte sie über zwanzig Katzen, jetzt sind es schon einige 
weniger. Aber da ist noch immer der alte Hund und da sind 
die Kühe und Schafe. Die Sonne wärmt dort eher als überall 
sonst in der Umgebung, an der Wand vor dem Haus stehen 
zwei, drei rohe Holztische mit Bänken und Sesseln, wenn wir 
Glück haben, gibt es frischen Schafskäse, und ein Stück 
Kuchen und ein Glas Most gibt es so gut wie immer.

 

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Letztes Update dieser Seite am  24.04.2001 um 11:06